Was hat die Trägheit der Unruh mit dem Energiepotenzial eines geladenen Federhauses zu tun?
Um die Kräfte zu bändigen, tüftelt die Schweizer Uhrenmanufaktur Audemars Piguet an ganz speziellen Lösungen.
Eine Pirouetten drehende Eiskunstläuferin kann sich wohl jeder vor Augen führen. Schließt sie die Arme über dem Kopf, werden ihre Rotationen immer schneller, öffnet sie den Körper weit, dreht sie sich langsamer, bis sie schließlich zum Stehen kommt. Hinter diesen Bewegungsabläufen der Tänzerin stecken die gleichen physikalischen Gesetze, nämlich die der Trägheit, wie hinter den Schwingungen einer Unruh. Dabei beschreibt die Trägheit die Eigenschaft eines Körpers, in seinem Bewegungszustand zu verharren, solange keine äußeren Kräfte auf ihn einwirken. Bei Rotationsbewegungen spricht man vom Trägheitsmoment, das angibt, welchen Widerstand ein drehbar gelagerter Körper gegenüber der Änderung seines Bewegungszustandes entgegenbringt.
Hochfrequenz frisst Federkraft
Dieser Widerstand hängt von verschiedenen Faktoren – der Form, der Masseverteilung oder der Drehachse des Körpers – ab. Was die Eiskunstläuferin betrifft unter anderem also von ihrer Größe und Figur, ob sie die Arme weitet oder schließt, auf einem oder beiden Beinen, der Spitze oder der ganzen Kufe des Schlittschuhs dreht. Bei der Unruh spielen ebenfalls Gewicht und Masseverteilung, Durchmesser und Material eine Rolle. Das Trägheitsmoment ist also nicht einfach eine Zahl, sondern die Summe verschiedener Variablen, so genannter "Tensoren", nach denen das Trägheitsmoment multipel berechnet wird. In modernen Entwicklungsabteilungen der Uhrenindustrie sind dafür heute diverse Computerprogramme im Einsatz.
Giulio Papi, der technische Direktor der Audemars Piguet (Renaud et Papi) SA, erklärt anhand eines solchen Programms die Zusammenhänge der Physik: Um beispielsweise eine Unruh mit 21.600 Halbschwingungen in der Stunde (A/h) in Bewegung zu versetzen, bedarf es der Überwindung eines Trägheitsmoments von 7,5 Milligramm pro Quadratzentimeter (mg/cm2). Unter festgelegten Federhausmaßgaben berechnet das Programm dann eine Gangreserve von 91 Stunden. Erhöht man bei gleichen Parametern die Frequenz auf 28.800 A/h, liegt die Gangreserve bei 54 Stunden. Das Trägheitsmoment erhöht sich dabei mit 12,5 mg/cm2 auf knapp das 1,7-fache. Bei 36.000 A/h bleiben noch 27 Stunden Gangreserve bei einem Trägheitsmoment von 19,7 mg/cm2, und bei einer Frequenz von 43.200 A/h – eine Schlagzahl, die Audemars Piguet mit der neuen Hemmung, auf die wir an späterer Stelle noch zu sprechen kommen, erreicht – bleibt noch eine Gangreserve von 13 Stunden bei einem Trägheitsmoment von 28,3 mg/cm2. "Ein unhaltbarer Zustand", scherzt Giulio Papi, "die Trägheit der Unruh frisst die Kraft des Federhauses." Oder anders gesagt: Die Verdoppelung der Frequenz teilt die Gangreserve nicht proportional, sondern lässt sie von 91 auf 13 Stunden zusammenschmelzen. Das heißt, will man die Frequenz der Unruh verändern, aber dabei eine akzeptable Gangreserve erhalten, bedarf es komplett neuer Berechnungen und Konstruktionen des Uhrwerks, allen voran der Hemmung und des Federhauses. Doch warum will man eigentlich die Frequenz der Unruh variieren?
Aber: Je höher, desto präziser
Die Hemmung, zu welcher die Unruh gehört, ist im Uhrwerk der Schlüssel zur Präzision und inspiriert schon immer den Erfindergeist der Uhrmacher. Im Laufe der Geschichte entstehen verschiedene technische Lösungen – die Spindelhemmung, die Zylinderhemmung oder die Chronometerhemmung. In mechanischen Armbanduhren hat sich die im Jahre 1786 von Jean-Moïse Pouzait erfundene und weitgehend bekannte Schweizer Ankerhemmung durchgesetzt.
Die Hemmung erfüllt zwei wichtige Funktionen: Sie hemmt – daher ihr Name – den unkontrollierten Ablauf des unter Federlast stehenden Räderwerkes, nutzt aber einen Teil der Energie, um die Unruh in Schwingung zu versetzen, welche ihrerseits – bestimmt von ihrer Schwingfrequenz – die Zeit in regelmäßige Abschnitte – je kleiner, desto präziser also – teilt und damit deren Anzeige ermöglicht. Hieraus wird eigentlich schon klar, dass der Hemmung größte Bedeutung bezüglich Zuverlässigkeit und Präzision eines Uhrwerks zukommt. An der Schnittstelle mehrerer Kraftfelder ist sie aber auch großen Belastungen ausgesetzt und muss sehr hohe Anforderungen erfüllen.
Sie muss möglichst energieeffizient arbeiten und in allen Lagen der Uhr und auch unter Erschütterungen hohe Funktionssicherheit gewährleisten. Sie sollte so wenig wie möglich den Isochronismus stören, womit man die Eigenschaft des Schwingsystems beschreibt, unabhängig von der Schwingungsweite stets mit der gleichen Frequenz zu oszillieren. Und schließlich soll eine Hemmung mit wenig Schmierung auskommen, um die Präzision wegen verharzter Schmierstoffe nicht einzuschränken.
Weniger ist mehr
Nun, es ist nicht unbekannt, dass verschiedene, renommierte Uhrenhersteller an Lösungen mit dem modernen Material Silizium im Bereich der Hemmung arbeiten, welches höchste Präzision ohne Schmierung verspricht. Audemars Piguet geht – zumindest für den Moment – einen anderen Weg und hält an herkömmlichen Systemen fest, um sie zu verbessern. Die Idee besteht bereits Ende des 20. Jahrhunderts darin, mit diesem konventionellen uhrmacherischen Ansatz eine ölfreie Hemmung zu bauen, die – um die Ganggenauigkeit zu verbessern – im Hochfrequenzbereich eingesetzt werden kann. Bei ihren Recherchen stoßen die Uhrmacher auf Konstruktionen von Robert Robin. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt er eine Hemmung mit direktem Antrieb (das heißt ohne Anker) für einen guten Isochronismus sowie einem beweglichen Übertragungselement (mit Gabel und Sicherheitsstift wie bei der Schweizer Ankerhemmung) für hohe Funktionssicherheit. Doch die ausgeklügelte Konstruktion führt zu dieser Zeit nicht zum Erfolg, vor allem weil die Anforderungen an die Präzision der Metallverarbeitung die technischen Möglichkeiten jener Epoche weit übersteigen. Als die Uhrmacher von Audemars Piguet zu dieser Erkenntnis kommen, ist ihnen noch nicht klar, dass in Folge ihrer Nachforschungen eine völlig neue, eigene Hemmung entstehen würde.
Nach mehrjähriger Entwicklungs- und Testphase wird 2006 schließlich die neue Hemmung vorgestellt, die inzwischen als Hochfrequenz-Hemmung mit 43.200 Halbschwingungen in der Stunde (A/h) in komplizierten Uhren der Marke zum Einsatz kommt, und mit einer Frequenz von 21.600 A/h in absehbarer Zeit in sämtlichen mechanischen Uhrwerken von Audemars Piguet ticken soll. Nach dem Vorbild von Robert Robin löst ein Rubin auf dem Plateau der Unruh das Ankerrad direkt aus. Im gleichen Moment durchquert die Ellipse die Ankergabel und hebt den Anker, welcher keinerlei Antriebs-, sondern nur noch eine Positionierungsfunktion für das Ankerrad besitzt, aus dem Eingriff mit dem Ankerrad. Schwingt die Unruh zurück, gibt es keinen erneuten Impuls des Rubins auf dem Plateau der Unruh an das Ankerrad.
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Man spricht von einer "Hemmung mit verlorenem Weg", weil es eben nur einen Antrieb während zweier Halbschwingungen gibt. Die Ellipse positioniert beim Zurückschwingen der Unruh lediglich den Anker. Dabei handelt es sich um ausgesprochen geringe Kontaktflächen zwischen den Rubinen des Ankers und den Zähnen des Ankerrades, welche letztendlich eine schmierungsfreie Hemmung möglich machen. Greift der Rubin einer Schweizer Ankerhemmung 0,4 Millimeter ins Ankerrad ein, so gibt es zwischen dem Rubin am Anker und dem Ankerradzahn bei der Audemars-Piguet-Hemmung eine Berührungsfläche von lediglich 0,05 Millimetern. Um diese präzise Position des Ankers in allen Lagen und selbst bei starken Erschütterungen zu sichern, haben die Uhrmacher von Audemars Piguet eine – inzwischen patentierte – Sicherheitsklinge entwickelt, die jede ungewollte Bewegung der Ankergabel verhindert. Je nach Halbschwingung, also ob der Anker gerade das Ankerrad freigibt oder für die nächste Halbschwingung wieder in Position bringt, taucht die Klinge entweder in eine Aussparung an der Plateauflanke der Unruh ein oder schwenkt aus dieser heraus. Wenn man bedenkt, dass es dabei um Größenordnungen von wenigen Hundertstelmillimetern geht, wird klar, dass eine solche Präzision zu Zeiten Robert Robins noch undenkbar ist und deshalb die große Stoßempfindlichkeit seiner Hemmung ein Grund dafür ist, dass sich seine Erfindung in der Praxis nicht durchsetzen lässt.
Fassen wir an dieser Stelle also zusammen: Neben ihrer Stoßsicherheit dank einer ausgeklügelten Sicherheitsklinge und deren hochpräziser Fertigung macht die spezielle Geometrie der Audemars-Piguet-Hemmung eine Schmierung überflüssig. Der direkte Antrieb der Unruh ohne zwischengeschalteten Anker verbessert ebenso den Wirkungsgrad wie nur ein abgegebener Antriebsimpuls während zweier Unruh-Halbschwingungen. Denn es gilt: Je weniger Bewegung bei der Kraftübertragung, desto höher die Ausbeute. Gegenüber einer Schweizer Ankerhemmung verbessert sich der Wirkungsgrad der Audemars-Piguet-Hemmung von 30 auf 50 Prozent.
Die neue Audemars-Piguet-Hemmung finden wir mit zwei unterschiedlichen Frequenzen konkret im Kaliber 2905 der Millenary sowie im Kaliber 2908 der Jules Audemars. Dabei oszilliert die Unruh in letzterem Uhrwerk mit 43200 Halbschwingungen in der Stunde bei einer Gangreserve von 90 Stunden und im Kaliber 2905 mit 21 600 Halbschwingungen in der Stunde bei einer Gangreserve von 168 Stunden, sprich sieben Tagen. Und damit kommen wir zurück zu den von Giulio Papi eingangs angestellten physikalischen Betrachtungen. Eine höhere Frequenz der Unruh, welche zwar höhere Präzision gewährleistet, abereinher geht mit einem größeren zu überwindenden Trägheitsmoment, nimmt dem Uhrwerk einiges an Kraft, sprich Gangreserve. Um diese dennoch in den genannten Größenordnungen zu sichern, hat Audemars Piguet einerseits die beschriebene energieeffizientere Hemmung und andererseits ein spezielles Doppelfederhaus-System entwickelt. Das Zusammenspiel beider Konstruktionen sichert die beachtliche Gangreserve von 90 Stunden im Hochfrequenzkaliber 2908 und erhöht sie im Kaliber 2905 mit der gängigen Frequenz von 21600 Halbschwingungen in der Stunde auf sieben Tage.
Doppelt dreht besser
In beiden Handaufzugsuhrwerken laufen zwei parallel geschaltete überdimensionale Federhäuser mit einer vergleichsweise hohen Drehzahl ab. Das wird zunächst einmal durch die Verwendung besonders dünner Federn möglich, welche die Energieabgabe an das Werk besonders sanft und gleichmäßig gestalten. Aber auch die spezielle Konstellation der Federhäuser trägt zur Optimierung der Gangreserve bei. Giulio Papi erklärt, dass – wie bei Audemars Piguet umgesetzt – zwei parallel geschaltete Federhäuser – gegenüber zwei in Reihe geschalteten Federhäusern – nur die Hälfte der Kraft brauchen, um das Uhrwerk zum Laufen zu bringen. Das aufzubringende Drehmoment teilt sich auf zwei Federhäuser auf, während bei in Reihe geschalteten Federhäusern das zweite stärker sein muss, um den Reibungsverlust mit dem ersten aufzuheben, was wiederum einen Kraftverlust bedeutet. Vorteil zweier in Reihe geschalteter Federhäuser ist, dass man einfacher zu einer höheren Gangreserve kommt, aber der Leistungsverlust ist größer. Bei parallel geschalteten Federhäusern ist die Leistungskurve effektiver. Man setzt sie ein, um bessere Ergebnisse in der Chronometrie zu erreichen. Audemars Piguet hat das Doppelfederhaussystem zusätzlich mit einem Blockiermechanismus ausgestattet, um im Interesse höherer Gangpräzision nur die Phase konstanter Federkraft zu nutzen.
Die beiden Federhäuser des Kalibers 2905 könnten sogar Energie für neun Tage liefern, aber die Phasen extrem starker Federkraft nach Vollaufzug und schwacher Federkraft kurz vor Ablauf der Federhäuser sind durch ein intelligentes Blockiersystem eliminiert. Um die entstehenden Reibungskräfte weiter zu nivellieren, stehen die beiden Federhäuser in einer ganz besonderen Eingriffs-Konstellation zueinander, sprich die Zahnkränze der Federhäuser greifen um einen halben Eingriff versetzt in das Trieb des Minutenrades ein. Dadurch wird eine sehr ausgewogene Kraftabgabe an das Räderwerk erreicht, weil sich die Reibungskräfte und das variable Drehmoment gegeneinander aufheben. Dieser Effekt gelingt nur mit dem erwähnten Eingriffsversatz. Zur Veranschaulichung stelle man sich den Verlauf zweier Sinuskurven vor. Um 180 Grad versetzt, heben sie sich gegeneinander auf – so wie sich die in den Federhäusern entstehenden Kräfte gegenseitig ausgleichen.
Neben dem höheren Wirkungsgrad der Audemars-Piguet-Hemmung kompensiert also auch das spezielle Doppelfederhaus-System den Energiebedarf des Hochfrequenzkalibers 2908. Sonst wäre bei einer Schlagzahl von 43.200 Halbschwingungen in der Stunde – wie wir anhand der eingehenden Berechnungen von Giulio Papi nachvollziehen können – eine Gangreserve von 90 Stunden undenkbar. Dass diese bei einer Frequenz von 21.600 Halbschwingungen in der Stunde auf sieben, theoretisch gar neun Tage ansteigt, entspringt physikalischen Gesetzmäßigkeiten ebenso wie der konstruktiven Meisterschaft von Audemars Piguet.
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