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Corum: Tourbillon auf Backbord

Die Admiral’s Cup Seafender 47 Tourbillon GMT von Corum
© PR
Die Familie Porsche hat die Grenchner Uhrenmanufaktur Eterna an die China Haidian Holdings Limited verkauft. Damit beginnt ein neues Kapitel in der Schweizer Uhrenindustrie.
A m 27. Juni dieses Jahres sickerte die Nachricht durch, dass Eterna in chinesische Hände verkauft sei. Zwei Tage später folgte die offizielle Bestätigung der Manufaktur aus Grenchen: Eterna sei zu 100 Prozent von der International Volant Limited, einer Tochter von China Haidian, übernommen worden. Damit ging ein monatelanges Rätselraten über die Zukunft Eternas zu Ende. Gleichzeitig beginnt ein neues Kapitel in der Schweizer Uhrenindustrie, denn es ist das erste Mal, dass eine Traditionsmanufaktur an ein chinesisches Unternehmen verkauft wurde. Obwohl Eterna keine betrieblichen Zahlen kommuniziert, stand nie außer Frage, dass die Firma in den zurückliegenden Jahren ohne Gewinne operiert hatte. Ganz im Gegenteil: 2010 hatte das 1995 durch die F. A. Porsche Beteiligungen GmbH erworbene Unternehmen Verluste in beträchtlicher Höhe produziert. 20,6 Millionen Schweizer Franken sollen es gewesen sein – eine Summe, die die im Jahr 2010 realisierten Verkäufe um 9,8 Millionen Franken überstieg. So viel lässt sich jedenfalls Berichten entnehmen, die an der Börse in Hongkong zirkulieren. Dort nämlich ist die China Haidian Holdings Limited kotiert.
Große Pläne In Sachen Uhren ist die Käuferin kein unbeschriebenes Blatt: Neben der Schweizer Uhrenmarke Codex gebietet sie unter anderem zu 91 Prozent über die schnell wachsende Zhuhai Rossini Watch Industry Ltd. (Jahresumsatz 2010: rund 32,7 Millionen Euro), die Shenzhen Permanence Commerce Co. Ltd. (ein Distributeur von Citizen, Casio und Calvin-Klein-Uhren in China) sowie die EBOHR Luxuries International Company Ltd. (Jahresumsatz 2010: rund 30,3 Millionen Euro). Letztere ist eine 100-prozentige Muttergesellschaft der Swiss Chronometric SA mit Sitz in Luzern. Diese wiederum verlor 2010 zwar umgerechnet 1,63 Millionen Euro, besitzt jedoch große Pläne: Codex soll eine neue Luxusuhrenmarke mit Tourbillons und anderen mechanischen Komplikationen werden, gestaltet und produziert in der Schweiz. Der Vertrieb soll über freie Konzessionäre erfolgen: über die am 1. Juli 2010 eröffnete Swiss Chronometric Boutique und andere Verkaufspunkte der Gruppe. Diese unterhält davon allein in China zurzeit mehr als 1140; auf diese Weise kontrolliert Haidian gut 40 Prozent des chinesischen Uhrenmarkts. Insgesamt setzte Haidian 2010 mit unterschiedlichen Aktivitäten, zu denen auch industrielle Produkte gehören, rund 1,497 Milliarden Hongkong-Dollar (134,7 Millionen Euro) um. Der ausschütt bare Gewinn lag bei umgerechnet 22,45 Millionen Euro. Für jene 22,9 Millionen Franken (19,6 Millionen Euro), die Eterna kostete, bekam Haidian nicht nur Hardware in Gestalt von Immobilie und Maschinen, sondern auch ein ganzes Paket unterschiedlicher Handaufzugs- und Automatikkaliber bis hin zum legendären „Indicator“, kreiert in den zurückliegenden Jahren. Und genau diese Werkepalette einschließlich der im Entwicklungsstadium befindlichen Kaliberfamilie 39xx passt perfekt ins Zukunftskonzept der Verantwortlichen von Haidian, Präsident Hon Kwok Lung (56) und CEO Shang Jianguang (59). Außerdem währt der 1998 unterzeichnete Vertrag zur Fertigung von Uhren der Marke Porsche Design noch weitere acht Jahre. Dieser Sachverhalt hatte die rund 70 Eterna-Mitarbeiter auf ein Engagement der Stuttgarter Porsche Holding hoffen lassen. Aber ganz offensichtlich war Oliver Porsche als amtierendem Executive der F. A. Porsche Beteiligungen GmbH die Lust auf Uhren längst vergangen. Verkaufsgerüchte kursierten angesichts anhaltender Verluste in Millionenhöhe nicht erst seit gestern. Dem Vernehmen nach hatten die milliardenschweren Salzburger der Eterna einen Familienkredit in Höhe von 43 Millionen Franken eingeräumt. Es steht zu vermuten, dass er auch abgerufen wurde und im Zuge der Veräußerung abgeschrieben werden muss. Gut vorstellbar, dass für den 50-jährigen Oliver Porsche mit dem nun abgeschlossenen Verkauf ein chronometrischer Albtraum endet. Noch am 20. Juni 2011 hatte Eternas CEO Patrick Schwarz ein mangelndes Interesse Schweizer und anderer europäischer Investoren festgestellt. Ein paar Tage danach erfolgte der Verkauf an China Haidian. Schwarz war schon am 5. Juli 2011 nicht mehr für eine Stellungnahme zu erreichen, offiziell befand er sich „im Urlaub“. Dass er CEO der Manufaktur bleibt, erscheint unwahrscheinlich.
Kampf um Mechanikwerke und Assortimens Die Entscheidung gegen eine Übernahme Eternas wird der eine oder andere Schweizer Uhrenhersteller möglicherweise noch bedauern. Bekanntlich hat die Swatch Group Anfang Juni 2011 bei der Schweizer Wettbewerbskommission (WEKO) ein Verfahren gegen sich selbst beantragt. Die Untersuchung soll zeigen, ob der von CEO Nick Hayek schon während der Bilanzpressekonferenz am 10. März 2011 angekündigte Ausstieg aus der Belieferung des Mitbewerbs mit gewissen Komponenten für mechanische Uhrwerke gegen das Kartellgesetz verstößt. Dazu gehören auch die sogenannten Assortiments, also Hemmungen, Unruhn und Unruhspiralen, produziert von der Tochter Nivarox-FAR. Auf diesem Gebiet besitzt die Swatch Group laut WEKO einen Marktanteil von mehr als jenen 70 Prozent, der für mechanische Uhrwerke gilt. Die schrittweise Lieferreduzierung trifft die boomende Branche ins Mark. Zur Vermeidung eines GAU hat die WEKO im Zusammenhang mit der nun durchgeführten Anhörung Betroffener einvernehmlich mit dem Antragsteller verfügt, dass die Swatch Group ihre Liefermengen bei mechanischen Uhrwerken ab 2012 auf 85 Prozent des 2010 bezogenen Quantums reduzieren darf. Im Falle der Assorti ments sind es 95 Prozent. Vor allem der Eta-Konkurrent Sellita, der unter anderem Klone der Erfolgskaliber 2824 (SW 200), 2892 (SW 300) und 7750 (SW 500) im Programm hat, dürfte unter der Mengenkürzung mächtig zu leiden haben. Verminderte Liefermengen können die Sellita-Produktion um bis zu 30 Prozent beeinträchtigen. Sellitas CEO Miguel Garcia hat daher bereits Widerstand angekündigt. Der zur Festina-Gruppe des Spaniers Miguel Rodriguez gehörenden Soprod SA wird es auch so lange nicht viel besser gehen, bis ausreichende Alternativ-Fertigungskapazitäten für Komponenten wie beispielsweise Assortiments zur Verfügung stehen. Für die Branche jenseits der Swatch Group besteht also dringender Handlungsbedarf.
Kauf mit Perspektive Zurück zu Eterna. Hier nimmt die Kaliberfamilie Eta 775x mit Selbstaufzug und Chronograph eine Spitzenposition bei den verbauten Uhrwerken ein. Mehr als 50 Prozent der rund 10000 gefertigten Armbanduhren ist damit bestückt. Weil ein Ausbleiben oder eine deutliche Verknappung der Lieferungen die geschäftliche Plattform ins Wanken bringen könnte, haben die Entwickler Patrick Kury, Samir Merdanovic und Jörg Ammann bei Eterna das Projekt 39xx mit Vehemenz in Angriff genommen. Es soll die hochwertigen, nicht aber für eine industrielle Fertigung vorgesehenen Kaliber 3030 Automatik sowie 3505 und 3510 Spherodrive ergänzen. Bei Spherodrive steht die Federhaus-Lagerung im Vordergrund uhrmacherischer Optimierung. Energiezufuhr und Energieabgabe wurden konsequent voneinander getrennt. Die Aufzugswelle mit zwei Kugellagern ist ins Aufzugssystem eingegliedert. Durch die „fliegende“ Kugellagerung des Federhauses resultiert eine abrollende Bewegung, die weniger Reibung, weniger Kraftverlust bei der Energieabgabe und eine höhere Lebensdauer des Systems mit sich bringt. Die wegen der ungewissen Situation bei mechanischen Uhrwerken und insbesondere Chronographen ins Auge gefasste Kaliberfamilie 39xx stand von Anbeginn im Fokus industrialisierter Produktion. Ihr unbestreitbarer Vorteil besteht in der modularen und damit hoch flexiblen sowie vielseitigen Ausprägung. Das Spektrum reicht vom relativ einfachen Handaufzugswerk mit zwei oder drei Zeigern bis hin zum Automatik-Chronographen, also der anspruchsvollsten industrialisierbaren Komplikation mechanischer Uhrwerke. Bezogen auf den Chronographen ist besonders positiv zu bemerken, dass das zugehörige Schaltwerk rückseitig auf das Uhrwerk und damit jederzeit sichtbar montiert wird. Das kommt den Ansprüchen heutiger Mechanik-Freaks ebenso entgegen wie einer hohen Servicefreundlichkeit. Die Chronographen-Mechanik befindet sich derzeit noch im Entwicklungsstadium. Ihre Ausstattung mit klassischem Schaltrad, horizontaler Räderkupplung sowie konzentrisch angeordneten Totalisatoren für Minuten und Stunden hebt sich deutlich von den üblichen Standards ab. Hervorzuheben ist auch der zusätzliche 24-Stunden-Zeiger zum Einstellen einer Referenzzeit. Ein unabhängig verstellbarer Stundenzeiger aus der Mitte müsste aus Platzgründen vorderseitig modular ergänzt werden. Zu den Alleinstellungsmerkmalen gehören ferner der Spherodrive, welcher trotz verhältnismäßig großer Unruh und vier Hertz Unruhfrequenz eine „Wochenend“-Gangautonomie von rund 68 Stunden gestattet. Im Extremfall ermöglicht die flexible, weitgehend modular aufgebaute Konstruktion bis zu 48 verschiedene Werkausführungen. Selbstverständlich kann die 13¼-linige, 7,9 Millimeter hohe Variante Chronograph das Eta 7773 hinsichtlich Dimensionen sowie Kronen- und Drücker-Positionierung hundertprozentig ersetzen. Zukunftschancen Durch den Haidian-Einstieg sollte einer zügigen Weiterarbeit an der Kaliberfamilie 39xx und der Beschaffung des zur Serienproduktion erforderlichen Maschinenparks nichts mehr im Wege stehen. Knackpunkt ist und bleibt die Beschaffung des unverzichtbaren Schwing- und Hemmungssystems. Sobald alle anstehenden Probleme gelöst sind, dürfte es trotz eines höheren Preises an externen Kunden für das Eterna 3963 nicht mangeln. Den Chinesen sind, wie zu hören war, das eidgenössische Standbein, die Bewahrung des Swiss Made und die Erhaltung der Arbeitsplätze ein großes Anliegen. Bleibt die Frage, wer Patrick Schwarz als CEO nachfolgen wird. Eine charismatische Führungspersönlichkeit mit Produkt-Visionen und Gespür für die engagierten, zuletzt aber reichlich demotivierten Mitarbeiter tut bitter not. Sollten Kury, Merdanovic und Ammann die Eterna im Zuge der neuen Besitzverhältnisse ebenfalls verlassen, wäre das ein riesiger Schlag für die 1856 gegründete Traditionsmanufaktur, aus der 1932 die Eta als Rohwerke-Ableger hervorgegangen ist und die nun unter neuem Dach hoffentlich in eine glücklichere Zukunft blicken wird.
Text: Gisbert L. Brunner
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