Das ewige Streben der Uhrmacherei nach Präzision hat unterschiedlichste Technologien hervorgebracht. Zwischen Mechanik und Quarz gibt es Exoten, die bis heute bei Sammlern beliebt sind: Uhren mit summendem Antrieb, deren Ära vom Ende der 1940er-Jahre bis zum Aufkommen der Schwingquarze dauert.
Eine Uhr tickt, das weiß jedes Kind – egal, ob Quarz oder Mechanik sie antreibt. Aber eben nicht alle Uhren: 1960 muss sich so manches Ohr umgewöhnen. Wie eine Mücke klingt es, wenn eine Stimmgabel in der Uhr für die richtige Zeit sorgt. Diese Vorstufe der Quarzuhr wird in zahlreichen Uhrenmodellen eingesetzt – allen voran kommt die Accutron von Bulova als erste Armbanduhr mit Stimmgabelwerk in den Handel. Mit dem Slogan "The Watch that hums!" bringt Bulova die Uhr an den Mann – und auch in den Weltraum.
1953 nimmt das Summen seinen Lauf
Handaufzug und Automatik sind bis in die 1950er-Jahre gängiger Standard an den Handgelenken von Herren und auch Damen. Zwar gibt es bereits erste Vorläufer der heutigen Massenuhren mit Quarzwerk, doch von einer handlichen Größe sind diese noch weit entfernt. Mechanischen Zeitanzeigern werfen die Uhrenträger häufig nötige Wartungen, empfindliche Technik und allzu oft mangelnde Präzision vor. Was bei Weitem nicht immer Schuld der Uhren ist. Die Industrie arbeitet an Alternativen, vor allem der schweizerisch-amerikanische Hersteller Bulova, der einen begabten Physiker aus Basel mit der Entwicklung betraut: Max Hetzel. Der im Jahr 1921 geborene Wissenschaftler nimmt Ende der 1940er-Jahre die Aufgabe bei Bulova wahr, im Juni 1953 ist der erste Prototyp lauffähig.
Wenige Bauteile sorgen für mehr Präzision
Das erste Stimmgabelwerk von Bulova trägt die Bezeichnung 214, nur wenige Bauteile bestimmen seinen elektrischen Teil: Ein Transistor schaltet die elektrischen Impulse, die über zwei Spulen die Stimmgabel bewegen. In einer der beiden Spulen ist eine Messspule integriert, die gemeinsam mit Widerstand und Kondensator die Höhe und den Zeitpunkt des Stromstoßes bestimmt. Diese Amplitudenregelung bewirkt die enorme Ganggenauigkeit der Stimmgabeluhr – der maximale Abweichungswert beträgt eine Minute pro Monat, wird jedoch meistens deutlich unterschritten. Damit ist in den 1950er-Jahren ein Quantensprung getan, denn mechanische Uhren weichen pro Woche um diesen Wert ab, so sie nicht ausgewiesene Chronometer sind. Erstaunlich dabei: Dünner als ein menschliches Haar liegen fast 200 Meter Kupferdraht auf den beiden Spulen der Accutron.
Besonders gut zur Geltung kommt diese Technologie bei einem speziellen Uhrenmodell von Bulova, das heute zu den begehrtesten zählt. Die Accutron Spaceview in 14-karätigem Gold ist ursprünglich ausschließlich für Händler gedacht, die in ihrem Schaufenster einen Blickfang bieten wollen. Denn anders als die Serienmodelle zeigt sie durch das offene Zifferblatt ihre Stimmgabel und die weitere Technik. Schriftzug, Markenlogo und Indizes sind dabei von hinten auf das Kunststoff- oder Mineralglas gedruckt. Die Uhr erfährt einige Nachfrage bei den Händlern – und schnell entschließt sich Bulova, das Uhrenmodell auch in großer Stückzahl zu produzieren.
Genauigkeit ist im Weltraum gefragt
Der Name der Pionier-Stimmgabeluhr ist mit Bedacht gewählt. "Accu-" steht für Genauigkeit (accuracy), und die Silbe "-tron" entnimmt Bulova dem Wort electronic. Ein ähnliches Selbstbewusstsein zeichnet die Stimme der Uhr aus – zwischen f und fis liegt der Ton, den sie als Singsang in ihrem Lauf abgibt. So verwundert es auch nicht, dass die Accutron ihren Weg in den Weltraum macht – mehrere Uhrenmodelle begleiten die Weltraum-Missionen der NASA. Eine Accutron mit 24-Stunden- Zifferblatt wird in den Kapseln des Gemini- Programms eingesetzt; auch mit Accutrons ausgestattet werden die Apollo-Raumfahrzeuge. Der Erfolg ist – nicht zuletzt durch das selbstbewusste und geschickte Marketing – immens: Mehrere Millionen Uhren werden abgesetzt. Sogar im deutschen Fernsehen hat die Bulova Accutron einen Auftritt: 1968 führt der deutsche Physiker und Raumfahrtmediziner Heinz Haber in der Sendereihe "Was sucht der Mensch im Weltraum?" die Zuschauer in die Mythen und Wahrheiten der Raumfahrt ein. Als Beispiel, wie Raumfahrttechnologie den Alltag beeinflussen kann, nutzt er seine private Accutron Spaceview, die mittels Mikrofon ihren Klang zu den Zuschauern vor den Fernsehgeräten sendet.
Auch heute noch sind die Uhrenmodelle der Spaceview-Baureihe gefragt, der Preis für die Goldversion kann mehrere tausend Euro betragen. Deutlich kostengünstiger lassen sich die Modelle in Stahl oder Walzvergoldung erwerben. Ab 250 Euro aufwärts ist die Uhr zu haben – je nach Zustand kann der Preis aber schnell in den Bereich von 500 Euro und mehr steigen. Günstiger sind allgemein die Modelle mit geschlossenem Zifferblatt. Doch die Ersatzteilbeschaffung kann bei allen Uhrenmodellen Schwierigkeiten aufwerfen: Nur wenige Uhrmacher verfügen über Teile, bereits die Auswahl der Batterie kann Probleme machen. Die ursprünglich von Quecksilberoxidzellen mit einer Spannung von 1,35 Volt angetriebene Uhr kann man heute nur mit Batterien neuer Bauarten mit 1,55 Volt Spannung ausstatten. Dies verursacht mitunter einen deutlichen Vorgang. Insgesamt ist die Mechanik aber robust – da kaum Last auf das Räderwerk wirkt, ist ein mechanischer Verschleiß kaum messbar. Zudem kommt die Uhr mit deutlich weniger Rädern und Trieben aus als eine mechanische Armbanduhr und bietet so dem Verschleiß eine kleinere Angriffsfläche.
Omega, Tissot und Longines setzen auf schwingende Gabeln
Mit der Accutron ist die Geschichte der Stimmgabeluhren jedoch noch nicht beendet. Zwar ist der Pionier der Stimmgabel eindeutig Bulova, doch auch andere Hersteller wirken mit. Allen voran sind die Uhrenmodelle von Omega bekannt, die von Eta-Esa-Werken angetrieben werden. Doch auch Tissot, Longines und Titoni sowie andere schweizerische und internationale Uhrenmarken setzen die summenden Werke ein. Die Stimmgabeln aus Grenchen, die Omega selbstbewusst und erfolgreich Kaliber 1250 nennen, schwingen mit 300 Hertz.
Dahinter steckt allerdings das ETA-ESA 9162. Mit dem Vermerk "f 300 Hz" zeigt das Zifferblatt den Antrieb – wenn auch ohne die reizvollen Einblicke, die Bulova mit der Spaceview bietet. Die elektronisch gesteuerte Stimm - gabel treibt eine Zentralsekunde an, ebenso steht ein Datum zur Verfügung. Mit einem Durchmesser von 13 Linien (29 Millimetern) und einer Höhe von knapp 5 Millimetern ist das Kaliber kompakt. 12 Rubine sorgen für langen und einwandfreien Lauf. Modelle aus diesen Serien sind heute selten – und entsprechend relativ teuer. Bastelexemplare in lauf - fähigem Zustand bekommt man ab wenigen hundert Euro, erstklassig erhaltene Uhren können zwischen 400 und 1 000 Euro und mehr kosten. Zustand, Box, Papiere und der Sammlerwille beeinflussen hier den Preis.
Der Schrittschaltmotor bringt das Ende der summenden Uhren
Bis 1977 wird das Eta-Esa 9162 produziert – ebenfalls im Jahr 1977 baut Bulova die letzte Accutron. Einen Höhepunkt in der Geschichte der Stimmgabeluhren stellt das Omega-Werk 1220 dar, das von 1973 bis 1974 als Krone der Schnellschwinger hergestellt wird. Die als "Megasonic" bezeichneten Uhren bieten eine Schwingfrequenz von 720 Hertz – doppelt so viel wie die Accutron von Bulova. Das Klinkenrad ist hier wesentlich kleiner und im Vergleich zu den anderen Stimmgabelwerken voll gekapselt. Bei einem Durchmesser von 1,2 Millimetern verfügt es über 180 Zähne. Ebenfalls innovativ zeigt sich die Kraftübertragung in das Räderwerk: Eine magnetische Kupplung überträgt die Energie ohne Eingriff und auch sonst berührungslos. Diese Technologie ist bis heute selten, nahezu einmalig. Die Megasonic gehört zu den rarsten Uhren mit Stimmgabeln und wird dementsprechend für 1.000 Euro und mehr gehandelt. Einst liegt der Einstiegspreis bei 1.000 Deutschen Mark – viel Geld, wenn man bedenkt, dass eine Bulova Accutron in der Stahlversion während der Bauzeit zwischen 200 und 400 Deutsche Mark kostet. Preislich unter der Megasonic liegen auch die Uhrenmodelle von anderen Swiss- Made-Marken wie Longines, die bereits für 600 Mark über den Ladentisch gehen.
Doch Ende der 70er-Jahre ist die Ära der Stimmgabel vorüber. Vor allem die Kosten machen ihre Technologie ersetzbar: Schwingquarze lassen sich billiger und in Massen fertigen. Ein Schrittschaltmotor ist zudem mit weniger Aufwand in das Uhrwerk einzusetzen, und dies macht die Uhren noch günstiger. Doch bis heute hat die Magie einer Uhr, die summt, nicht nachgelassen. Denn eines ist gewiss: Kein Uhrenträger kann diesen Gesang am eigenen Handgelenk überhören.
Text: Thomas Gronenthal
Fotos: Hersteller, Antiquorum, Heftarchiv
Thomas Gronenthal, Jahrgang 1978, kann sich nicht mehr erinnern, wann er damit begann, sich für mechanische Uhren und ihre Werke zu interessieren. Seit 15 Jahren schraubt er dabei auch an den tickenden Zeitmessern.