Ich muss zugeben: Bevor ich meinen Selbstversuch startete, hatte ich noch nie eine Smartwatch am Arm. In Sachen mobile Kommunikation gehöre ich eher zu denen, die sich fragen, ob die Bezeichnung "smart" dem Benutzer oder dem Gerät gilt.
Schließlich wird uns bei der Bedienung einiges abverlangt. Nehmen wir zum Beispiel unsere über ihre Handys gebeugten Mitmenschen, denen ich täglich in der Bahn begegne. Sie sehen immer so gebannt beschäftigt aus. Das Neudeutsche hat dafür einen Begriff geprägt: "busy" sagt man heute. Mir scheint, das Wort leitet sich vom Datenbus ab, der Informationen innerhalb eines IT-Systems überträgt: Unerwünschte menschliche Begegnungen sind garantiert ausgeschlossen. Da kommt man sich als Freund der mechanischen Armbanduhr vor wie ein Spielverderber, der die Schulstunde schwänzt, während die anderen fleißig büffeln.
Smartwatch vs. Mechanik - wo liegt der Unterschied?
Der Freund der mechanischen Armbanduhr widmet sich ihr eher wie ein Liebender. Gerne betrachtet er die Angebetete aus respektvollen Abstand und nähert sich ihr nur in Momenten völliger Hingabe. Dies geschieht regelmäßig zum Beispiel beim morgendlichen Kaffee, wenn man sie zurechtmacht für den Tag und sie dann vorsichtig aufzieht. Aber nicht etwa um sie sogleich anzulegen: Mit lyrischem Blick überzeugt man sich erst noch einmal durch den Glasboden von ihren inneren Qualitäten. Da fällt einem unweigerlich Kurt Schwitters' Anna Blume ein: "Man kann dich auch von hinten lesen, und du, du Herrlichste von allen, du bist von hinten wie von vorne." Doch wie steht es um ihren Gegenspielerin, die neumodische Smartwatch? Ist sie ein Zeitdieb, der stets unnötige Aufmerksamkeit einfordert? Gibt es mit ihr auch jene Momente freiwilliger Zugewandtheit, oder ist sie gar eine Droge? - Ich wollte es herausfinden.Selbstversuch: Ein Tag mit Smartwatch
6:30 Uhr, der Wecker klingelt. Nur langsam finde ich in den Tag, als sich die ersten Fragen auftun: Wird es heute trocken bleiben, ist der Zug pünktlich, wartet bereits eine wichtige Nachricht in meinem Postfach, wie kalt ist es draußen und wie warm kann es werden? Alle Antworten kennt meine Smartwatch. Noch bevor ich den Kleiderschrank erreiche, lege ich dieses wie eine elektronische Handfessel aussehende Orakel an meinen rechte Arm. Abstimmungsbedarf hinsichtlich der passenden Farbe zum Anzug - Fehlanzeige. Nüchtern neutral, fast futuristisch kommt sie daher. Auch ein Gang zum Bahnhof in Unterhosen würde die Kompatibilität von Uhr und Outfit nicht stören. Bevor ich das Haus verlasse, platziere ich sicherheitshalber noch meine mechanische Armbanduhr an ihren Stammplatz meines linken Handgelenks. Derart gut ausgestattet kann es losgehen.
Kaum vor der Haustüre angekommen fängt meine Smartwatch an, mit mir zu kommunizieren. Eine E-Mail eines Kollegen ist tatsächlich eingegangen, und kaum habe ich angefangen, mich zu beeilen - der Zug fährt heute laut Smartwatch pünktlich - teilt man mir mit, dass mein Puls zu niedrig ist. Im Übrigen scheint meine seit Jahren eingefahrene Route, mit der Abkürzung über den Vorplatz des Krankenhauses ein Umweg zu sein. Dort begegne ich stets um die gleiche Zeit der netten blonden Dame, welche mich dann sehr freundlich und vertraut anlächelt. Kürzer wäre es geradewegs am Haupteingang vorbei, wo mir stets eine aus dem Schulbus strömende Horde von Primaren entgegen kommt.
Mit der Smartwatch wird Routine zum Abenteuer
Als ich mich unterwegs über die verbleibende Zeit informieren möchte, sagt mir die digitale Anzeige, dass ich noch genau sieben Minuten habe. Mein Puls beginnt hörbar zu rasen. Der Gedanke daran, den Zug zu verpassen, macht mich nervös. Ich bin erst wieder beruhigt, als ich mein linkes Handgelenk von der Manschette befreie und freien Blick auf meine mechanische Queen of the Day habe. Sieben Minuten, die nicht springen und mich in Hektik versetzen; sieben Minuten, die gleitend vorüberziehen. In zwei Minuten werde ich den Kiosk passieren - wie jeden Morgen - und in fünf Minuten werde ich den Taxistand vor dem Hauptbahnof erreicht haben. Dann sind es noch zwei Minuten bis zum Gleis.
Geschafft. Als ich meine Schweißperlen trockne und endlich in der Bahn sitze, werde ich über die Nachrichten des Tages informiert. Das ist hilfreich, wenngleich sich mir aus der Schlagzeile die wahren Geschehnisse nicht wirklich erschließen: "Beinahe-Kollision zweier Züge in letzter Sekunde verhindert". Während ich noch über die empfangene Botschaft rätsele, fange ich an in meinem Buch zu lesen - wie jeden Tag. Ohne Zwischenfälle erreiche ich das Ende des Kapitels und meinen Arbeitsort. In den kommenden Stunden wird sich vieles wiederholen, und mein Tamagotchi zur Rechten verlangt immer wieder nach Zuwendung.