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Wie mechanische Uhren ihre Gangautonomie erreichen

Die beiden Zugfedern im A. Lange & Söhne L034.1 sind mit 1,85 Metern Länge zehnmal so lang wie gewöhnliche Federn.
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Eine durchschnittliche mechanische Uhr läuft nicht einmal 48 Stunden, wenn sie in der Zwischenzeit nicht neu aufgezogen wird. Um eine längere Gangautonomie – sprich: eine längere Gangdauer ohne erneute Energiezufuhr – zu erreichen, kann man eine längere Zugfeder benutzen oder mehrere Federhäuser einsetzen.
Die Lange 31 von A. Lange & Söhne bringt es dank des Handaufzugswerks L034.1 auf 31 Tage Gangautonomie. © PR

Das mechanische Uhrwerk ist ein ausgeklügeltes Energiesystem

Das Schwingsystem eines mechanischen Uhrwerks braucht nicht viel Kraft. Eine milliardstel Pferdestärke reicht aus, um die Oszillationen der Unruh samt der zugehörigen Spirale aufrechtzuerhalten – so haben es eidgenössische Uhreningenieure vor Jahrzehnten berechnet. Damit das Werk nicht stehen bleibt, ist regelmäßiger Energienachschub erforderlich. Den liefert bei tragbaren Uhren ein Federspeicher. Das Räderwerk − eine Getriebekette − wandelt seine langsamen, aber kraftvollen Rotationen in immer schnellere Drehungen um. Die mehrfache Energieübertragung von Zahnrad auf Zahntrieb bringt eine Vergrößerung des Weges und eine Reduktion der Kraft mit sich. Genau berechnete Übersetzungsverhältnisse sorgen dafür, dass die Bewegungen des Räderwerks sowie die Unruhschwingungen unserem Zeitmaß gerecht werden. Leider sinkt die Antriebskraft des Federspeichers mit dessen zunehmendem Ablauf. Zudem wirkt sich dieser Ablauf nachteilig auf die Beständigkeit der Unruh-Amplitude aus, was wiederum die Gangstabilität negativ beeinflusst. Bei klassisch konstruierten Uhrwerken ist das Energiesystem so konzipiert, dass die Zugfeder mit ungefähr sieben Umdrehungen zwischen ihren beiden Befestigungspunkten im Federhaus vollständig gespannt ist. Im aufgezogenen Zustand sollte das halbe Federhaus von den eng aneinander liegenden Federwindungen ausgefüllt sein.
Seltener Anblick: Die in das Federhaus eingelegte Zugfeder verbirgt normalerweise der Federhausdeckel. © PR
Die prinzipiellen Eigenschaften einer Zugfeder sowie des von ihr erzeugten Antriebsmoments gehen aus der sogenannten Federkennlinie hervor. Bei dieser zeigt sich, dass die Zugfeder bei Vollaufzug ein sehr hohes, im mittleren Bereich ein relativ gleichmäßiges und zum Schluss ein stark absinkendes Antriebsmoment liefert. Daher wird die anfangs überproportional hohe Federkraft heute meist durch die Gestaltung des äußeren Federhakens und des Gesperrs (Sperrfeder, Sperrkegel und Sperrrad) kompensiert. Das Gesperr ermöglicht es, dass sich die Zugfeder nach dem Loslassen der Aufzugskrone geringfügig entspannt. Dagegen finden die "Malteserkreuz"-Stellungen, die den Vollaufzug und den kompletten Ablauf des Federhauses verhindern, wegen ihrer komplizierten Handhabung kaum noch Verwendung.
Im Handaufzugwerk A. Lange & Söhne L034.1 nimmt das Doppelfederhaus einen Großteil des Raumes ein. Dafür speichert es auch genug Energie für eine 31-tägige Gangautonomie. © PR
Da einer Handaufzugsuhr idealerweise täglich – möglichst immer zur gleichen Zeit – über die Krone neue Energie zugeführt wird, nutzt man vom Moment des Aufzugsvorgangs an nur vier der sieben Umdrehungen tatsächlich zum Betrieb eines Uhrwerks. Die drei verbleibenden Umgänge bilden somit eine durchaus wünschenswerte Gangreserve, die Vergesslichen das Stehenbleiben ihrer Uhr erspart, sich jedoch mit einem Nachlassen der Ganggenauigkeit verknüpft. Die Gangdauer eines Uhrwerks resultiert aus der verfügbaren Anzahl der Federumdrehungen.

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Entscheidend ist bei der Frage nach der Gangautonomie aber auch die Frequenz der Unruh. Je höher diese ausfällt, desto mehr Federkraft wird für eine gleiche Gangdauer benötigt. Grundsätzlich gestattet ein Federhaus mit vordefinierter Größe bei einer bestimmten Federdicke keine beliebige Federlänge, mit der sich eine maximale Anzahl von Umdrehungen herbeiführen lässt. Der günstigste Wert ist dann gegeben, wenn die Zugfeder das Federhaus zu 55 bis 60 Prozent füllt. Andererseits lässt sich die verfügbare Anzahl der Zugfederumdrehungen bei einem mechanischen Uhrwerk keineswegs vollständig nutzen. Sofern das Drehmoment des Federhauses unter einen bestimmten Wert sinkt, stoppt das Getriebe reibungsbedingt. Die Uhr bleibt stehen.

Gute Zugfedern - hoher Wirkungsgrad, viel Kraft und ein langes Leben

Zugfedern sollten also einen hohen Wirkungsgrad haben, eine lange Lebensdauer sowie eine minimale Drehmomentänderung beim Ablaufen. Außerdem muss die Speicherung eines möglichst großen Quantums an Energie auf kleinstem Raum bewerkstelligt werden. Diesen Anforderungen begegnet die Uhrenindustrie auf unterschiedliche Weise. Ein hoher Wirkungsgrad lässt sich durch Reibungsreduktion erreichen, etwa durch eine Politur der Zugfeder und geeignete Schmiermittel. Zur Minderung der Federreibung am Federhausdeckel wählen die Konstrukteure ein Stahlband, das weniger breit ist, als die lichte Höhe des Federhauses. Das konzentrische Abwickeln der Zugfeder im Federhaus begünstigt der Federzaum, ein schmales Band aus dem gleichen Werkstoff wie die Zugfeder selbst, befestigt am äußeren Federende. Moderne Federstähle kommen der Forderung entgegen, möglichst viel Energie in möglichst kleinem Volumen zu speichern. Darüber hinaus gewährleisten sie die gewünschte Langlebigkeit.
Ist das gegeben, bleibt schließlich eine Vergrößerung der Gangautonomie durch ein größeres Federhaus mit längerer Zugfeder. Diese Möglichkeit wurde in Armbanduhren schon ab 1913 beim Modell "Hebdomas" mit acht Tagen Gangautonomie realisiert. Hier überdeckte ein riesiges Federhaus das gesamte rückwärtige Uhrwerk. In den 1930er-Jahren gab es Kaliber mit normal großem Federhaus, modifiziertem, um Zwischenräder ergänzten Getriebe und einer winzigen Unruh, welche ebenfalls eine Woche am Stück liefen.

Parallel oder in Reihe - die Umsetzung von Mehrfederhaussystemen

Die Alternative besteht in der Verwendung zweier oder mehrerer Zugfedern. Dieses uhrmacherische Kunststück vollbrachte der gebürtige Schweizer Henri Louis Jaquet-Droz schon 1785 in London. Bei seiner Konstruktion standen zwei Federhäuser gemeinsam mit dem Minutentrieb in Verbindung, der Aufzug erfolgte automatisch mit Hilfe zweier Schwungmassen. Jede davon war für eines der beiden Federhäuser zuständig.
Federhäuser parallel: Das für die Bewegung des Räderwerks aufzubringende Drehmoment teilt sich auf zwei Federhäuser auf. © PR
Die energetische Optimierung seiner berühmten Chronometer war auch Abraham-Louis Breguet ein besonderes Anliegen: Anstelle des verbreiteten Kette-Schnecke-Systems verwendete er zwei parallel geschaltete Federhäuser, die ebenfalls gemeinsam auf das Minutentrieb einwirkten. Ein Beispiel ist die Breguet Nr. 3118, bei der jedes Federhaus eigens aufgezogen werden muss. Beide verfügen je über ein Gesperr und die Malteserkreuz-Stellung.
Federhäuser in Reihe: So kommt man einfacher zu höheren Gangreserven, aber es wirken mehr Kräfte auf das Räderwerk. © PR
Beim Chronometer mit der Nummer 428 lassen sich zwei ebenfalls nebeneinander wirkende Zugfedern gemeinsam spannen. Der Glashütter Altmeister Alfred Helwig verwendete seriell, also hintereinander geschaltete Federhäuser. Dabei spannt das erste Federhaus, wenn es selbst voll aufgezogen ist, den nachfolgenden Federspeicher. Der Antrieb des Uhrwerks erfolgt über ein Rad, das auf dem Kern des zweiten Federhauses montiert ist. Helwig hat auch noch eine andere, deutlich komplexere Version seines Doppelfederhaussystems ersonnen.

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Zu den Pionieren der Armbanduhr mit zwei Federhäusern gehört die Firma Favre-Leuba. 1962 präsentierte sie verschiedene, nur drei Millimeter hohe Handaufzugskaliber. Alle verfügten über zwei parallel geschaltete Federhäuser, die auf das Minutenradtrieb einwirkten. Die Unruhfrequenz lag bei 18.000 Halbschwingungen in der Stunde, die Gangautonomie bei guten 40 Stunden. Insider beeindruckte die Federstärke von nur 0,05 Millimetern − das übliche Maß liegt bei 0,10 bis 0,12 Millimetern. Infolge der extrem dünnen Zugfedern zählt man bei diesen Favre-Leuba-Kalibern 9,25 Federhaus-Umdrehungen.

Pioniere der Armbanduhr mit zwei Federhäusern

Longines setzte ab 1975 bei der Manufaktur-Kaliberfamilie 89 auf zwei seriell geschaltete Federhäuser, deren Energien und Drehgeschwindigkeiten sich addierten. Beim Kaliber 890.2 mit Klinkenrad-Wechsler, beidseitig aufziehendem Rotor, indirekter Zentralsekunde und Fensterdatum waren die Kraftspeicher allerdings noch koaxial übereinander angeordnet, was eine beträchtliche Bauhöhe von 5,2 Millimetern bedeutete. Das deutlich flachere Nachfolge-Kaliber E’ wartete mit zwei relativ schnell rotierenden Zugfedern auf. Daraus resultierten merklich niedrigere Drehmomente, als bei Kalibern mit nur einem Energiespeicher. Durch diesen Kunstgriff ließ sich die auf das Räderwerk ausgeübte Kraft spürbar reduzieren und die Leistung trotzdem steigern. Zum Aufrechterhalten der Unruhschwingungen genügte das halbe Kraftmoment, wie in konventionellen Kalibern. Speziell hier zeigte sich der Vorteil schnell rotierender Federhäuser. Analog zu Favre-Leuba erreichte die Gangautonomie einen Wert von rund 40 Stunden. Allerdings handelte es sich bei den Kalibern der Familie L990 um Schnellschwinger mit einer Unruhfrequenz von 28.800 Halbschwingungen pro Stunde.
Die Gangautonomie der Panerai Radiomir 8 Days stammt aus dem Kaliber P.2002 mit drei Federhäusern. © PR
Die Oris 110 Years Limited Edition schafft zehn Tage Gangautonomie mit einem Federhaus. © PR
Heutzutage sind zwei oder gar mehrere Federhäuser nichts Ungewöhnliches mehr. Und die damit erreichbaren Gangreserven können bis zu einem ganzen Monat betragen. Wird ein neues Uhrwerk entworfen, sind bei der Konstruktion des Energiespeichers folgende Faktoren zu berücksichtigen: Erstens die Anzahl der Federumgänge. Sie darf zehn Umdrehungen wegen der Leistungskurve nicht überschreiten. Zweitens der verfügbare Platz im Uhrwerk. Drittens die gewünschte Leistung (oder das Drehmoment am Hemmungsrad), die unmittelbar mit dem Übersetzungsverhältnis zwischen dem Federhaus und dem Minutenrad verbunden ist. Viertens die gewünschte Gangreserve.

Die Vorteile von Uhrwerken mit einem Federhaus

Ist das Ziel eine durchschnittliche Gangautonomie von etwa zwei bis drei Tagen, so ist die Konstruktion mit nur einem Federhaus von Vorteil. Diese ist einfacher, rationeller, und es ergibt sich kein Kraftverlust, wie bei einer wesentlich komplexeren Lösung mit mehreren Federhäusern, bei der mit der Kraftübertragung von einem Federhaus auf das andere Energie verloren geht. Die Gangdauer lässt sich durch die Vergrößerung der Übersetzung vom Federhaus zum Minutentrieb erhöhen. Dazu ist eine stärkere Feder und, um diese unterzubringen, logischerweise auch ein größeres Federhaus notwendig. Man stößt also an physikalische Grenzen. Als optimale Lösung erweist sich dann ein System mit zwei oder mehreren Federhäusern.

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Ein Mehrfederhaussystem hat, gegenüber einem einzelnen Federhaus, den Vorteil, dass sich die Zahl der Federumgänge addieren lässt, wodurch sich die Gangreserve erhöht. Sinnigerweise wählt man das Räderverhältnis zwischen beiden Federhäusern so, dass die Zahl der Umgänge des ersten Federhauses um dessen Faktor auf das zweite multipliziert wird. Dennoch muss man den entstandenen Verlust der Leistung durch die Verzahnung der beiden Federhäuser bei der Konstruktion bedenken.

Die Vorteile von Mehrfederhaussystemen

Wünscht man die gleiche Gangreserve, bringt ein einzelnes Federhaus ein viel höheres Drehmoment auf Räderwerk und Unruh, als ein System mit zwei oder mehr Federhäusern. Die Entladungskurve der Feder in einem Federhaus ergibt eine Wiedergabe des Drehmoments, die viel weniger konstant ist, als die beim Gebrauch von mehreren Federhäusern. Außerdem führt das geringere Drehmoment bei zwei und mehr Federhäusern dazu, dass der Druck auf Räder und Achsen vermindert wird, was wiederum zu geringerem Verschleiß des gesamten Mechanismus führt.
Die vier Federhäuser im L.U.C 1.98 von Chopard stehen paarweise übereinander. © PR
Während Patek Philippe mit einem Doppelfederhaussystem zehn Tage Gangreserve in einem Tourbillon-Kaliber erreicht, bringt es Chopard in seinem Handaufzugswerk L.U.C 1.98 mit vier Federhäusern auf 216 Stunden beziehungsweise neun Tage Gangautonomie. Die Zugfedern sind jeweils etwa 470 Millimeter lang. Zwei Federn in der Lange 31 bringen es für einen Monat Gangreserve gar auf 1,85 Meter pro Feder. Dementsprechend groß müssen die beiden Federhäuser sein, in denen sie stecken. Zweifellos kommt man hier an die Grenzen des Machbaren, wenn die Armbanduhr noch eine akzeptable Größe haben und am Handgelenk tragbar bleiben soll. Text von Gisbert L. Brunner/Martina Richter Fortlaufend aktualisierter Artikel, erstmals online gestellt im Mai 2015

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