Eine durchschnittliche mechanische Uhr läuft nicht einmal 48 Stunden, wenn sie in der Zwischenzeit nicht neu aufgezogen wird. Wir kennen das von den Großserienkalibern, die für viele Uhren verwendet werden: Das bekannte Eta 2824 und das baugleiche, heute weit verbreitete Sellita SW200 haben mit 38 Stunden eine geringe Gangautonomie (zum Unterschied zwischen Gangautonomie und Gangreserve siehe Kasten weiter unten), beim gleichfalls viel verwendeten Eta 2892 sind es 42 Stunden.
Um eine längere Gangautonomie – sprich: eine längere Gangdauer ohne erneute Energiezufuhr – zu erreichen, kann man eine längere Zugfeder benutzen oder mehrere Federhäuser einsetzen.
Das mechanische Uhrwerk ist ein ausgeklügeltes Energiesystem
Das Schwingsystem eines mechanischen Uhrwerks braucht nicht viel Kraft. Eine milliardstel Pferdestärke reicht aus, um die Oszillationen der Unruh samt der zugehörigen Spirale aufrechtzuerhalten – so haben es eidgenössische Uhreningenieure vor Jahrzehnten berechnet. Damit das Werk nicht stehenbleibt, ist regelmäßiger Energienachschub erforderlich. Den liefert bei tragbaren Uhren ein Federspeicher. Das Räderwerk − eine Getriebekette − wandelt seine langsamen, aber kraftvollen Rotationen in immer schnellere Drehungen um. Die mehrfache Energieübertragung von Zahnrad auf Zahntrieb bringt eine Vergrößerung des Weges und eine Reduktion der Kraft mit sich. Genau berechnete Übersetzungsverhältnisse sorgen dafür, dass die Bewegungen des Räderwerks sowie die Unruhschwingungen unserem Zeitmaß gerecht werden. Leider sinkt die Antriebskraft des Federspeichers mit dessen zunehmendem Ablauf. Zudem wirkt sich dieser Ablauf nachteilig auf die Beständigkeit der Unruh-Amplitude (ihrer Schwingungsweite) aus, was wiederum die Gangstabilität negativ beeinflusst. Bei klassisch konstruierten Uhrwerken ist das Energiesystem so konzipiert, dass die Zugfeder mit ungefähr sieben Umdrehungen zwischen ihren beiden Befestigungspunkten im Federhaus vollständig gespannt ist. Im aufgezogenen Zustand sollte das halbe Federhaus von den eng aneinander liegenden Federwindungen ausgefüllt sein.
Die prinzipiellen Eigenschaften einer Zugfeder sowie des von ihr erzeugten Antriebsmoments gehen aus der sogenannten Federkennlinie hervor. Bei dieser zeigt sich, dass die Zugfeder bei Vollaufzug ein sehr hohes, im mittleren Bereich ein relativ gleichmäßiges und zum Schluss ein stark absinkendes Antriebsmoment liefert. Daher wird die anfangs überproportional hohe Federkraft heute meist durch die Gestaltung des äußeren Federhakens und des Gesperrs (Sperrfeder, Sperrkegel und Sperrrad) kompensiert. Das Gesperr ermöglicht es, dass sich die Zugfeder nach dem Loslassen der Aufzugskrone geringfügig entspannt. Dagegen finden die "Malteserkreuz"-Stellungen, die den Vollaufzug und den kompletten Ablauf des Federhauses verhindern, wegen ihrer komplizierten Handhabung kaum noch Verwendung.
Da einer Uhr mit Handaufzug idealerweise täglich – möglichst immer zur gleichen Zeit – über die Krone neue Energie zugeführt wird, nutzt man vom Moment des Aufzugsvorgangs an nur vier der sieben Umdrehungen tatsächlich zum Betrieb eines Uhrwerks. Die drei verbleibenden Umgänge bilden somit eine durchaus wünschenswerte Gangreserve, die Vergesslichen das Stehenbleiben ihrer Uhr erspart, sich jedoch mit einem Nachlassen der Ganggenauigkeit verknüpft. Die Gangdauer eines Uhrwerks resultiert aus der verfügbaren Anzahl der Federumdrehungen.
Entscheidend ist bei der Frage nach der Gangautonomie aber auch die Frequenz der Unruh. Je höher diese ausfällt, desto mehr Federkraft wird für eine gleiche Gangdauer benötigt. Grundsätzlich gestattet ein Federhaus mit vordefinierter Größe bei einer bestimmten Federdicke keine beliebige Federlänge, mit der sich eine maximale Anzahl von Umdrehungen herbeiführen lässt. Der günstigste Wert ist dann gegeben, wenn die Zugfeder das Federhaus zu 55 bis 60 Prozent füllt. Andererseits lässt sich die verfügbare Anzahl der Zugfederumdrehungen bei einem mechanischen Uhrwerk keineswegs vollständig nutzen. Sofern das Drehmoment des Federhauses unter einen bestimmten Wert sinkt, stoppt das Getriebe reibungsbedingt. Die Uhr bleibt stehen.
Gangautonomie und Gangreserve
Gangautonomie bezeichnet die Dauer, die ein Uhrwerk nach dem Aufziehen läuft, ohne dass es in der Zwischenzeit zu einer weiteren Energiezufuhr kommt. Also ohne dass eine Handaufzugsuhr erneut aufgezogen wird bzw. ohne dass eine Automatikuhr am Arm getragen wird. Gangreserve dagegen bedeutet strenggenommen den Rest der Zeit, den eine Uhr nach Ablauf von 24 Stunden noch autonom läuft. Das Professionelle Wörterbuch der Uhrmacherei von G.-A. Berner, ein Standardwerk der Uhrenindustrie, definiert "Réserve de Marche" (Gangreserve ist die deutsche Übersetzung) als die "Zeit, während der eine Klein- oder Großuhr zwischen zwei Aufzügen über die normale Gangdauer hinaus (24 Stunden für Kleinuhren, 7 Tage für gewöhnliche Großuhren) noch laufen kann." Daraus ergibt sich die Gleichung: Gangreserve = Gangautonomie minus 24 Stunden.
Allerdings wird der Begriff Gangautonomie in der Praxis kaum noch gebraucht. Auch bei den meisten Uhrenmarken kennen allenfalls noch die Uhrmacher den Begriff. Wer heute Gangreserve, réserve de marche oder power reserve sagt, meint in aller Regel die Gangautonomie.
Gute Zugfedern - hoher Wirkungsgrad, viel Kraft und ein langes Leben
Zugfedern sollten also einen hohen Wirkungsgrad haben, eine lange Lebensdauer sowie eine minimale Drehmomentänderung beim Ablaufen. Außerdem muss die Speicherung eines möglichst großen Quantums an Energie auf kleinstem Raum bewerkstelligt werden. Diesen Anforderungen begegnet die Uhrenindustrie auf unterschiedliche Weise. Ein hoher Wirkungsgrad lässt sich durch Reibungsreduktion erreichen, etwa durch eine Politur der Zugfeder und geeignete Schmiermittel. Zur Minderung der Federreibung am Federhausdeckel wählen die Konstrukteure ein Stahlband, das weniger breit ist als die lichte Höhe des Federhauses. Das konzentrische Abwickeln der Zugfeder im Federhaus begünstigt der Federzaum, ein schmales Band aus dem gleichen Werkstoff wie die Zugfeder selbst, befestigt am äußeren Federende. Moderne Federstähle kommen der Forderung entgegen, möglichst viel Energie in möglichst kleinem Volumen zu speichern. Darüber hinaus gewährleisten sie die gewünschte Langlebigkeit. Ist das gegeben, bleibt schließlich eine Vergrößerung der Gangautonomie durch ein größeres Federhaus mit längerer Zugfeder. Diese Möglichkeit wurde in Armbanduhren schon ab 1913 beim Modell Hebdomas mit acht Tagen Gangautonomie realisiert. Hier überdeckte ein riesiges Federhaus das gesamte rückwärtige Uhrwerk. In den 1930er-Jahren gab es Kaliber mit normal großem Federhaus, modifiziertem, um Zwischenräder ergänzten Getriebe und einer winzigen Unruh, welche ebenfalls eine Woche am Stück liefen.
Parallel oder in Reihe – die Umsetzung von Mehrfederhaussystemen
Die Alternative besteht in der Verwendung zweier oder mehrerer Zugfedern. Dieses uhrmacherische Kunststück vollbrachte der gebürtige Schweizer Henri Louis Jaquet-Droz schon 1785 in London. Bei seiner Konstruktion standen zwei Federhäuser gemeinsam mit dem Minutentrieb in Verbindung, der Aufzug erfolgte automatisch mit Hilfe zweier Schwungmassen. Jede davon war für eines der beiden Federhäuser zuständig.
Die energetische Optimierung seiner berühmten Chronometer war auch Abraham-Louis Breguet ein besonderes Anliegen: Anstelle des verbreiteten Kette-Schnecke-Systems verwendete er zwei parallel geschaltete Federhäuser, die ebenfalls gemeinsam auf das Minutentrieb einwirkten. Ein Beispiel ist die Breguet Nr. 3118, bei der jedes Federhaus eigens aufgezogen werden muss. Beide verfügen je über ein Gesperr und die Malteserkreuz-Stellung.
Beim Chronometer mit der Nummer 428 lassen sich zwei ebenfalls nebeneinander wirkende Zugfedern gemeinsam spannen. Der Glashütter Altmeister Alfred Helwig (1886–1974) verwendete seriell, also hintereinander geschaltete Federhäuser. Dabei spannt das erste Federhaus, wenn es selbst voll aufgezogen ist, den nachfolgenden Federspeicher. Der Antrieb des Uhrwerks erfolgt über ein Rad, das auf dem Kern des zweiten Federhauses montiert ist. Helwig hat auch noch eine andere, deutlich komplexere Version seines Doppelfederhaussystems ersonnen.
Zu den Pionieren der Armbanduhr mit zwei Federhäusern gehört die Firma Favre-Leuba. 1962 präsentierte sie verschiedene, nur drei Millimeter hohe Handaufzugskaliber. Alle verfügten über zwei parallel geschaltete Federhäuser, die auf das Minutenradtrieb einwirkten. Die Unruhfrequenz lag bei 18.000 Halbschwingungen in der Stunde, die Gangautonomie bei guten 40 Stunden. Insider beeindruckte die Federstärke von nur 0,05 Millimetern − das übliche Maß liegt bei 0,10 bis 0,12 Millimetern. Infolge der extrem dünnen Zugfedern zählt man bei diesen Favre-Leuba-Kalibern 9,25 Federhaus-Umdrehungen.
Pioniere der Armbanduhr mit zwei Federhäusern
Longines setzte ab 1975 bei der Manufaktur-Kaliberfamilie 89 auf zwei seriell geschaltete Federhäuser, deren Energien und Drehgeschwindigkeiten sich addierten. Beim Kaliber 890.2 mit Klinkenrad-Wechsler, beidseitig aufziehendem Rotor, indirekter Zentralsekunde und Fensterdatum waren die Kraftspeicher allerdings noch koaxial übereinander angeordnet, was eine beträchtliche Bauhöhe von 5,2 Millimetern bedeutete. Das deutlich flachere Nachfolge-Kaliber E’ wartete mit zwei relativ schnell rotierenden Zugfedern auf. Daraus resultierten merklich niedrigere Drehmomente als bei Kalibern mit nur einem Energiespeicher. Durch diesen Kunstgriff ließ sich die auf das Räderwerk ausgeübte Kraft spürbar reduzieren und die Leistung trotzdem steigern. Zum Aufrechterhalten der Unruhschwingungen genügte das halbe Kraftmoment wie in konventionellen Kalibern. Speziell hier zeigte sich der Vorteil schnell rotierender Federhäuser. Analog zu Favre-Leuba erreichte die Gangautonomie einen Wert von rund 40 Stunden. Allerdings handelte es sich beim Kaliber 890 genau wie beim 1977 eingeführten Nachfolgekaliber L990 um Schnellschwinger mit einer Unruhfrequenz von 28.800 Halbschwingungen pro Stunde.
Heute sind zwei oder mehrere Federhäuser nichts Ungewöhnliches mehr. Die damit erreichbaren Gangreserven können bis zu vielen Wochen betragen – wie im Fall der A. Lange & Söhne Lange 31 mit einem Monat Gangautonomie oder – noch extremer – der Hublot MP-05 mit elf Federhäusern und sage und schreibe 50 Tagen Gangreserve.. Wird ein neues Uhrwerk entworfen, sind bei der Konstruktion des Energiespeichers folgende Faktoren zu berücksichtigen: Erstens die Anzahl der Federumgänge. Sie darf zehn Umdrehungen wegen der Leistungskurve nicht überschreiten. Zweitens der verfügbare Platz im Uhrwerk. Drittens die gewünschte Leistung (oder das Drehmoment am Hemmungsrad), die unmittelbar mit dem Übersetzungsverhältnis zwischen dem Federhaus und dem Minutenrad verbunden ist. Viertens die gewünschte Gangreserve.
Die Vorteile von Uhrwerken mit einem Federhaus
Ist das Ziel eine durchschnittliche Gangautonomie von etwa zwei bis drei Tagen, so ist die Konstruktion mit nur einem Federhaus von Vorteil. Diese ist einfacher, rationeller, und es ergibt sich kein Kraftverlust wie bei einer wesentlich komplexeren Lösung mit mehreren Federhäusern, bei der mit der Kraftübertragung von einem Federhaus auf das andere Energie verloren geht. Die Gangdauer lässt sich durch die Vergrößerung der Übersetzung vom Federhaus zum Minutentrieb erhöhen. Dazu ist eine stärkere Feder und, um diese unterzubringen, ein größeres Federhaus notwendig. Man stößt also an physikalische Grenzen.
Die Vorteile von Mehrfederhaussystemen
Gegenüber einem einzelnen Federhaus besitzt ein Mehrfederhaussystem den Vorteil, dass sich die Zahl der Federumgänge addieren lässt, wodurch sich die Gangreserve erhöht. Sinnigerweise wählt man das Räderverhältnis zwischen beiden Federhäusern so, dass die Zahl der Umgänge des ersten Federhauses um dessen Faktor auf das zweite multipliziert wird. Dennoch muss man den entstandenen Verlust der Leistung durch die Verzahnung der beiden Federhäuser bei der Konstruktion bedenken.
Wünscht man die gleiche Gangreserve, bringt ein einzelnes Federhaus ein viel höheres Drehmoment auf Räderwerk und Unruh als ein System mit zwei oder mehr Federhäusern. Die Entladungskurve der Feder in einem Federhaus ergibt eine Wiedergabe des Drehmoments, die viel weniger konstant ist als die beim Gebrauch von mehreren Federhäusern. Außerdem führt das geringere Drehmoment bei zwei und mehr Federhäusern dazu, dass der Druck auf Räder und Achsen vermindert wird, was wiederum zu geringerem Verschleiß des gesamten Mechanismus führt.
Während Patek Philippe mit einem Doppelfederhaussystem zehn Tage Gangreserve in einem Tourbillon-Kaliber erreicht, bringt es Chopard in seinem Handaufzugswerk L.U.C 1.98 mit vier Federhäusern auf 216 Stunden beziehungsweise neun Tage Gangautonomie. Die Zugfedern sind jeweils etwa 470 Millimeter lang. Zwei Federn in der Lange 31 bringen es für einen Monat Gangreserve gar auf 1,85 Meter pro Feder. Dementsprechend groß müssen die beiden Federhäuser sein, in denen sie stecken. Zweifellos kommt man hier an die Grenzen des Machbaren, wenn die Armbanduhr noch eine akzeptable Größe haben und am Handgelenk tragbar bleiben soll.
In den letzten Jahren findet man immer mehr Uhrwerke mit erhöhter Gangreserve. Immer dann, wenn neue Kaliber entwickelt werden, bemühen sich die Hersteller bei der Entwicklung darum, ihren Kunden mehr anzubieten als die 38 bis 42 Stunden der bekannten Großserienkaliber. Als neuer Standard etabliert sich derzeit eine Gangreserve von mindestens 60 Stunden: Sie bringt den Vorteil mit sich, dass man eine Uhr am Freitagnachmittag ab- und sie am Montagmorgen wieder anlegen kann, ohne sie neu stellen zu müssen.
Zu den Beispielen für das neue Minimum von 60 Stunden gehören etwa das hauseigene Chopard-Kaliber 01.01.-C, das die Luxussportuhr Alpine Eagle bestückt, oder das Manufakturkaliber PF 770 von Parmigiani, das sich in der Tonda PF Sport befindet.
Als Rolex vor zehn Jahren begann, die Automatikkaliber der 31xx-Reihe durch die neue Generation 32xx zu ersetzen, war das mit einer deutlichen Erhöhung der Gangreserve von 48 auf 72 Stunden verbunden. Audemars Piguet ging mit seinem 2019 vorgestellten hauseigenen Chronographenwerk 4400 auf 70 Stunden. 72 Stunden findet man seit Jahren auch beim Hublot-Chronographenwerk Unico. Grand Seiko ging mit seinem im Jubiläumsjahr 2020 vorgestellten Hi-Beat-Automatikkaliber 9SA5 auf 80 Stunden. Und als Oris sein „Calibre 400“ genanntes eigenes Automatikwerk entwickelte, nahm man ins Pflichtenheft sogar die Forderung nach 120 Stunden, also fünf Tagen, auf.
Den Anspruch nach mehr Gangreserve erfüllen nicht nur Manufakturwerke: Das C.07 der Eta, das in verschiedensten Varianten von Swatch-Group-Schwestermarken wie Certina, Hamilton, Mido, Rado oder Tissot verwendet wird, kommt gleichfalls auf 80 Stunden. Denselben Wert erreicht auch das neue TAG-Heuer-Kaliber TH31-00, das aus der Manufakturabteilung von Sellita mit Namen AMT stammt. Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen.
Text von Gisbert L. Brunner, Rüdiger Bucher und Martina Richter.
Fortlaufend aktualisierter Artikel, erstmals online gestellt im Mai 2015