Glashütte in Sachsen ist weder besonders groß noch besonders verkehrsgünstig gelegen. Dass trotzdem ein großer Teil und vor allem fast alle Luxusuhren Deutschlands hier entstehen, scheint zunächst rätselhaft. Immerhin haben in dem Städtchen zehn Uhrenmarken, zum Beispiel A. Lange & Söhne, Glashütte Original und Nomos Glashütte ihren Sitz. Einige der Marken entwickeln ihre Uhrwerke selbst und stellen auch fast alle Werkkomponenten im eigenen Haus her. Doch wieso sitzen alle großen deutschen Manufakturen in Glashütte? Und was macht Glashütter Uhren so besonders?
Dabei reicht es nicht, seinen Sitz in Glashütte zu haben, um den prestigeträchtigen Ort aufs Zifferblatt schreiben zu dürfen. Glashütte ist eine richtige Qualitätsbezeichnung: Die Glashütte-Regel besagt, dass 50 Prozent der Wertschöpfung am Uhrwerk vor Ort vorgenommen werden müssen, um den Ortsnamen aufs Zifferblatt drucken zu dürfen. Das ist einmalig in Deutschland und bemerkenswert, da viele deutsche Hersteller lediglich Schweizer Werke unverändert in ihre Uhren einbauen.
Aus Glashütte kommen klangvolle Markennamen wie A. Lange & Söhne und Glashütte Original. Die Uhren kosten teilweise über 100.000 Euro und haben auch außerhalb Deutschlands einen guten Ruf. Heute arbeiten in Glashütte ungefähr 1.000 der knapp 7.000 Einwohner im Uhrenbau, das ist ein Drittel aller Erwerbstätigen. Aber wie kommt es zu dieser Bündelung feiner Uhrenmarken, die man eher in München oder Hamburg erwartet hätte als in dem kleinen Ort im Osterzgebirge?
Ferdinand Adolph Langes Plan einer Uhrenindustrie
Anfang des 19. Jahrhunderts war das Silbererz, das Glashütte zu einem gewissen Wohlstand verholfen hatte, größtenteils abgebaut, und es gab kaum noch Arbeit. Die sächsische Regierung im 20 Kilometer nördlich von Glashütte liegenden Dresden rief Unternehmen auf, sich im Erzgebirge anzusiedeln. Der Uhrmachermeister Ferdinand Adolph Lange unterbreitete der Regierung den Plan, im Erzgebirge eine Uhrenindustrie nach dem Vorbild des Schweizer Jura zu etablieren. Dadurch sollte nicht nur der Wohlstand im Erzgebirge erhöht werden, sondern auch mehr Geld im Land bleiben. Denn bis dahin stammten hochwertige Taschenuhren fast ausschließlich aus der Schweiz.
Lange plante, 15 Jugendliche auszubilden. Diese sollten sich später selbstständig machen und als spezialisierte Zulieferer dienen. So sollte die Keimzelle für die deutsche Uhrenindustrie nach dem Vorbild des Schweizer Vallée de Joux entstehen. Das dort herrschende System der Arbeitsteilung und den Wohlstand der Region hatte Lange während seiner Wanderjahre kennen gelernt.
Die sächsische Regierung wählte Glashütte als geeigneten Ort aus und gewährte Lange ein Darlehen. 1845 ging er nach Glashütte und gründete dort seine Uhrenmanufaktur für Taschenuhren. Damals lebten nur noch etwa 1.000 Menschen in dem Erzgebirgsort. Es war allerdings ein schwieriges Unterfangen, die ehemaligen Strohflechter, Dienstjungen und Steinbrucharbeiter in die Feinmechanik einzuweisen. Außerdem brachten die Kosten Lange trotz der staatlichen Unterstützung an den Rand des Ruins, und er steckte sein ganzes Geld und das seiner Frau in das Unternehmen.
Neben der Produktion und der Ausbildung gelang es Lange noch, verschiedene Geräte zur präziseren Herstellung von Teilen zu entwickeln und die Uhrwerke zum Beispiel durch die Dreiviertelplatine weiter zu verbessern. Seine genauen Maschinen, die niedrigen Lohnkosten und die Arbeitsteilung führten tatsächlich dazu, dass er sehr präzise und dabei erschwingliche Uhren in Serie herstellen konnte. Auch Langes Plan, eine Uhrenindustrie zu etablieren, ging auf. Seine Lehrlinge machten sich selbstständig und belieferten ihn mit Teilen. Zudem siedelten sich andere Uhrenhersteller an, und eine Uhrmacherschule wurde gegründet.
Die Vision von Ferdinand Adolph Lange war Realität geworden: Eine richtige Uhrenindustrie mit Zulieferern hatte sich in Glashütte etabliert, und der Ort florierte. In Glashütte entstanden ausschließlich hochwertige Uhren. Gebrauchsuhren kamen damals aus dem Schwarzwald oder der Schweiz. Zunächst zögerte man in Glashütte daher auch, die in Mode gekommenen Armbanduhren und entsprechende Werke zu konstruieren und zu bauen.
Schlechte Zeiten für die Luxusuhren aus Glashütte
Während des zweiten Weltkriegs wurden hauptsächlich Zünder und Taschenuhren sowie Armbanduhren für den militärischen Bedarf gebaut. Darunter die berühmten großen Fliegeruhren. Noch am letzten Kriegstag wurde Glashütte bombardiert und schwer beschädigt.
Nach dem Krieg folgte die teilweise Demontage durch die sowjetischen Besatzungstruppen. 1951 wurden die verbliebenen Glashütter Uhrenfirmen – darunter Lange und Mühle – im Volkseigenen Betrieb Glashütter Uhrenbetriebe (GUB) zusammengefasst. Armbanduhren mit den in den 1960er Jahren entwickelten Automatikwerken Spezimatic und Spezichron waren nicht nur in der DDR als genaue und robuste Uhren sehr beliebt. Auch in Westdeutschland wurden sie unter dem Namen „Meisteranker“ verkauft und brachten dem sozialistischen Staat wichtige Devisen.
Während es sich trotz der hohen Qualität bei den Glashütter Produkten der DDR-Zeit um echte Gebrauchsuhren handelte, nahm die Bedeutung der alten, handgemachten und handverzierten Qualitätstaschenuhren von A. Lange & Söhne im Westen wieder zu. Auf Auktionen stiegen ihre Preise, und nicht wenige Uhrenliebhaber entdeckten sie für sich als Sammelgebiet.
Zweite Blüte: Glashütte Original entsteht
Nach der Wiedervereinigung kam es zu einer zweiten Blüte Glashüttes als Uhrenstadt. Die Glashütter Uhrenbetriebe wurden privatisiert, und 1994 entstanden Luxusarmbanduhren mit dem neuen Namen „Glashütte Original“. Die Uhrwerke werden selbst konstruiert, und die Fertigungstiefe ist enorm: Sogar Schrauben stellt Glashütte Original selbst her. Im Jahr 2000 wurde die Marke von der Swatch Group übernommen.
Ebenfalls 1994 stellte die wiedergegründete Marke A. Lange & Söhne mit technischer Unterstützung der Schweizer Schwester IWC ihre ersten Uhren vor: darunter die legendäre Lange 1 und ein kompliziertes Tourbillon. Walter Lange, der Urenkel von Ferdinand Adolph Lange, der nach dem Krieg nach Westdeutschland gegangen war, unterstützt die Marke. Alle Werke werden selbst entwickelt, und die Feinheit der Verzierungen genießt weltweite Anerkennung.
Markenzuwachs durch Mühle-Glashütte, Nomos und Wempe
Wie bei ersten, von Lange initiierten Blüte kamen andere Hersteller dazu, die teilweise an ihre eigene Geschichte in Glashütte anknüpfen konnten. So wurde Mühle-Glashütte ebenfalls von der Familie, die stets in Glashütte in der Uhrenindustrie beschäftigt war, wiedergegründet. Der Düsseldorfer Roland Schwertner gründete Nomos, auch diesen Namen hatte es schon mal Anfang des 20. Jahrhunderts in Glashütte gegeben. Als Vorbild für die Uhren diente ein Glashütter Design aus den 1920er Jahren. Inzwischen baut Nomos eigene Uhrwerke. Auch Juwelier Wempe baut Uhren in Glashütte. Ihm ist es zu verdanken, dass die verfallene Sternwarte in Glashütte renoviert wurde und heute die einzige deutsche Chronometerprüfstelle beherbergt.
Ein Ende des Wachstums ist nicht in Sicht: Zuletzt ist der inzwischen in der Nähe von Bremen ansässige Uhrenhersteller Tutima wieder mit einer Außenstelle zu seinen Ursprüngen nach Glashütte zurückgekehrt. Und die Marke Moritz Grossmann wurde ebenfalls wiedergegründet.
Das kleine Glashütte hat also dank seiner Geschichte, der eigenen Qualitätsmerkmale und der heutigen hochangesehenen Manufakturen seinen guten Ruf. Den Grundstein legte mit Ferdinand Adolph Lange ein visionärer Unternehmer.
6 Merkmale Glashütter Uhren:
- Dreiviertelplatine: Die Platine überdeckt das ganze Werk bis auf die Unruh.
- Glashütter Gesperr: Eine lange, geschwungene Feder sorgt dafür, dass das Federhaus nicht unkontrolliert abläuft.
- Glashütter Sonnenschliff: Ein gedrehter Sonnenschliff auf dem Sperrrad.
- Verschraubte Goldchatons: Die Lagersteine besitzen ein Futter aus Gold, dass von Schrauben gehalten wird.
- Gravierter Unruhkloben: Von Hand aufgebrachte, florale Verzierungen.
- Schwanenhals-Feinregulierung: Geschwungene Feder für den Rückerzeiger.