Nach der Quarzkrise kam die Renaissance der mechanischen Uhr. Klassisches Design der 1940er- und 1950er-Jahre sowie klassische Komplikationen wie die Mondphase und der ewige Kalender kamen in Mode. Als sich die mechanische Uhr als Luxus-Accessoire etabliert hatte, übernahmen sportliche Chronographen in Stahl nach und nach die Vorherrschaft von den eleganten Golduhren. Eine zweite Entwicklung betraf die Technik: Die Uhrenhersteller interpretierten die Komplikationen neu und entwickelten neue technische Mechanismen. Innovation wurde das neue Zauberwort. Etwas später erweiterten die Marken ihre Innovationen auch auf die verwendeten Materialien. Neue Teile aus Silizium kamen bei den Werken zum Einsatz. Den technischen Innovationen im Innern folgte eine äußerliche Modernisierung. Trotzdem dauerte es etwas länger, bis einige etablierte Marken innovative Konzepte umsetzten. Zwar gab es mit den Gérald-Genta-Entwürfen Audemars Piguet Royal Oak, Patek Philippe Nautilus und IWC Ingenieur in den 1970er Jahren frühe Vorreiter eines modernen, technischen Designs, aber sie blieben lange allein. Heute setzen einige Uhrenmarken auf technisches Design.
Marke #1, die auf technisches Design setzt: Hublot
Bei Hublot war das technische Design schon seit der Gründung 1980 in Teilen angelegt: Der Firmenname bedeutet auf Französisch „Bullauge", und entsprechend sah das Design der Uhren Lünettenschrauben vor. Als erste Uhrenmarke kombinierte Hublot Materialien wie Gold und Kautschuk. Die Uhren blieben allerdings eher flach und elegant. Erst Jean-Claude Biver etablierte ab 2005 mit der Big Bang eine neue Designsprache – sportlicher, technischer, detailreicher.
In den aktuellen Ausführungen der Big Bang Unico mit dem eigenen Chronographenkaliber hat Hublot die Komplexität noch weiter gesteigert. Mit dem schwarzen Kunststoffmittelteil des Gehäuses, dem neuen trapezförmigen Drücker für das Bandwechselsystem und dem sichtbaren Werk wird das Erscheinungsbild der Uhr noch detailreicher. Dass der komplexe Aufbau mit den rund 60 Gehäuseteilen Arbeit und Kosten verursacht, wird dem Betrachter sofort klar. Beispielsweise widmet sich Hublot mit viel Detailliebe den Schrauben. Die einzigartigen Schraubenköpfe mit dem stilisierten H-Profil sind dreidimensional gestaltet; die matte Fläche überragt ein polierter Ring. Dieses Wechselspiel der Oberflächen auf kleinstem Raum setzt sich am Gehäuse fort: Polierte Kanten und die polierte Seite der Lünette kontrastieren mit den satinierten Oberflächen und dem mattschwarzen Mittelteil des Gehäuses aus Kunstharz und der teilweise mit Kautschuk überzogenen Krone. Die nun runden Drücker wurden mit Rillen verziert und erinnern so an Motorkolben.
Sogar ein rein funktionaler Bestandteil wie der Drücker für das Bandschnellwechselsystem ist äußerst durchdacht. Zwischen den beiden Schrauben auf den Bandanstößen oben und unten findet man den trapezförmigen Drücker, dessen erhöhter Rand satiniert ist, während der innere Teil perlgestrahlt wurde. Diese Feinheiten machen die Komplexität bei Hublot aus. Den sichtbaren Detailreichtum erhöhen auch das fehlende Zifferblatt und das Manufakturkaliber Unico, das von vornherein für diesen optisch hervorgehobenen Einsatz entwickelt wurde. Dazu zählen vor allem das von vorn sichtbare Schaltrad, die horizontale Kupplung und die skelettierten Räder, bei denen man sofort sieht, dass sie sich drehen. Der Erfolg zeigt, dass das technische Hublot-Design den Zeitgeist trifft: Die Marke hat ihren Umsatz in nur vier Jahren verachtfacht.
Marke #2, die auf technisches Design setzt: Audemars Piguet
Audemars Piguet hat mit der Royal Oak Offshore 1993 die seinerzeit konsequenteste Weiterentwicklung der Genta-Idee geliefert: noch sportlicher, noch komplexer und dadurch noch technischer in der Anmutung. Damals wurde die Uhr wegen des 42 Millimeter großen Gehäuses „The Beast" genannt. In der Zwischenzeit hat sich diese Gehäusegröße bei Chronographen als Standard etabliert; Audemars Piguet aber legte mit bis zu 48 Millimeter großen Modellen nach.
2014 wurde auch die Kollektion in der ursprünglichen Größe überarbeitet. Ein markanterer Drückerschutz, die neu gestalteten Drücker und Krone, die nun aus Keramik bestehen, sowie komplexer geformte, facettierte Zeiger und eckigere Ziffern wirken noch technischer und detailreicher, auch wenn nicht die Anzahl der Teile, sondern nur die Anzahl der Kanten und Fasen erhöht wurde. Das waffelartige „Mega-Tapisserie"-Muster auf dem Zifferblatt und die acht sechseckigen Schrauben auf der Lünette blieben als typische Stilelemente natürlich erhalten.
Marke #3, die auf technisches Design setzt: IWC
Auch IWC widmet sich wie Audemars Piguet nur bei einer seiner Produktlinien dem modernen, technischen Design. Die Klassiker Portugieser und Große Fliegeruhr werden gepflegt; mit der Aquatimer versuchen die Schaffhauser sich etwas modischer, und die Ingenieur setzt das, was Gérald Genta 1976 begann, heute fort. Das technische Design, das Löcher in der Lünette vorsah, um diese festzuschrauben, wird heute in einigen Modellen variiert. Die Lünettenbohrungen werden durch Schrauben mit Außenprofil ersetzt, außerdem gibt es verschiedene Materialkombinationen, zum Beispiel Titan und Keramik. Durch die Schrauben erhöht sich automatisch der Detailreichtum, die Anmutung wird noch technischer – vor allem dann, wenn es sich um farblich abgesetzte Schrauben mit ungewöhnlichem Kopfprofil handelt.
Bei der Ingenieur Perpetual Calendar Digital Date-Month mit Flyback-Chronograph und ewigem Kalender kommen noch semitransparente Zifferblattausschnitte für die Scheiben von Datum, Monat und Schaltjahr hinzu. Das Gehäuse besteht aus der leichten Legierung Titanaluminid, Schrauben, Krone und Drücker aus harter Zirkonoxid-Keramik. Sicher nicht der Gipfel der Machbarkeit, aber ein Design, das vielleicht auch Liebhaber eher klassischer, sportlicher Zeitmesser anspricht – sozusagen die Einstiegsdroge ins Avantgarde-Design.
Marke #4, die auf technisches Design setzt: Richard Mille
Meist sind es ganz neue Marken, die ohne Rücksicht auf bisherige Modelllinien auf ein technisches, innovatives Design setzen. Allen voran Richard Mille. Hier wird ein weiterer Aspekt deutlich, der sich schon bei den Genta-Entwürfen bemerkbar machte: Aufwendiges Design kostet viel Geld und muss auch vom Kunden bezahlt werden. Waren davor vor allem Edelmetall als Gehäusematerial sowie der Grad der Komplikation und der Verzierung die wertbestimmenden Faktoren einer Uhr, so kostet das Einstiegsmodell bei Richard Mille in Titan und ohne Komplikationen 70.000 Euro.
Die Komplexität des Gehäuses ist entsprechend schwer herzustellen. Es ist meist nicht rund, aber oben wie unten gewölbt. Das bedeutet, dass keine Gehäuseteile wie Boden oder Lünette kostengünstig gedreht werden können. Allein 68 Präge- und Stanzvorgänge sind bei einem normalen Richard-Mille-Gehäuse nötig, um Lünette, Mittelteil und Boden aus Metall vorzuformen. Danach beginnen Fünf-Achsen-Fräsmaschinen ihre langwierige Arbeit. Alle Schrauben besitzen ein eigenes Design und werden speziell für die jeweilige Uhr entwickelt und angefertigt. Schraubenköpfe mit Außenkeilprofil wurden noch nie zuvor bei Armbanduhren eingesetzt. Die Schrauben sehen nicht nur attraktiv aus, man kann mit dem Werkzeug auch nicht so leicht abrutschen wie bei Schlitzschrauben. Außerdem können sie mehr Drehmoment übertragen. Gerade solche ungewöhnlichen Schraubenköpfe sorgen für ein dezidiert technisches Aussehen.
Das technische Design bleibt bei Richard Mille aber nicht beim Gehäuse stehen: Fast immer verzichten die Gestalter der Marke auf ein Zifferblatt. Die dadurch sichtbaren Werke sind so konstruiert, dass ein besonders technischer Eindruck entsteht. Richard Mille hat auch das erste Werk der Welt realisiert, das aus Röhren statt aus Brücken und Platinen besteht. Da es kein klassisches Zifferblatt gibt und man das Werk von vorn sehen kann, muss es das Gehäuse immer ganz ausfüllen, was einen deutlich höheren Entwicklungsaufwand voraussetzt.
Auch ungewöhnliche Materialien sorgen für ein technisches Aussehen. Diesen Effekt kann schon dunkles Titan hervorrufen, erst recht aber Magnesiumlegierungen oder Aluminum-Keramik. Mit einem Gehäuse aus KFK (kohlefaserverstärktem Kunststoff) gelang Richard Mille ein Rekord: Die RM 027 Tourbillon Rafael Nadal wog weniger als 20 Gramm und war somit für den Tennis-Champion kaum spürbar.
Das erst auf dem Genfer Uhrensalon 2017 vorgestellte Modell, der RM 50-03 Tourbillon Split Seconds Chronograph Ultralight McLaren F1, ist aktuell der leichteste Chronograph der Welt. Sein Gehäuse ist 49,65 Millimeter auf 44,50 Millimeter groß und besteht aus einem Materialmix von Titan, Karbon und Graphen. Graphen ist eine modifizierte Form von Kohlenstoff und sechsmal leichter sowie 200-mal stabiler als Stahl. Einschließlich Band wiegt der Chronograph nur 40 Gramm. Sieben Gramm davon macht das ebenfalls ultraleichte Manufakturkaliber RM 50-03 mit Handaufzug aus. Der leichteste Chronograph der Welt kostet 1.085.000 Euro.
Marke #5, die auf technisches Design setzt: Linde Werdelin
Einer der Gründer von Linde Werdelin ist der Designer Morten Linde. Er verantwortet die Gestaltung der markanten Zeitmesser. Typisch sind auch hier sichtbare Inbusschrauben am Gehäuse, verschiedenfarbige Materialien wie schwarz DLC-beschichteter Stahl und Rotgold sowie ein komplex geformtes Gehäuse.
Bei der Spidospeed wirken die Ausfräsungen und Durchbrüche am Gehäuse wie bei Mountainbike-Komponenten, die auf ein möglichst geringes Gewicht getrimmt wurden. Vorbild war ein Spinnennetz – leicht und trotzdem stark. Das Design setzt sich beim Werk fort: Das Zifferblatt besteht nur aus einem Ring mit Stunden- und Minutenindexen sowie Skalenringen für die Hilfszifferblätter. Die Räder und Lagersteine der sichtbaren Werkseite verbinden gerade Brücken, die wie das Gehäuse aus Gewichtsgründen ausgefräst zu sein scheinen. Das Automatikwerk stammt vom Schweizer Lieferanten Concepto. Der Clou bei Linde Werdelin: Die mechanischen Modelle lassen sich mit elektronischen Instrumenten fürs Skifahren oder Tauchen aufrüsten, die auf das Gehäuse aufgesteckt werden.
Marke #6, die auf technisches Design setzt: Devon
Von einer anderen Seite nähert sich Devon dem Avantgarde-Design. Kopf der Marke ist der US-amerikanische Designer Scott Devon. Die quarzgesteuerte Uhr Tread 2 zeigt die Zeit durch zwei über Kreuz laufende, beschriftete Riemen für Stunden und Minuten an. Auch hier gibt es kein klassisches Zifferblatt, aber das benötigt die Digitalanzeige auch gar nicht: Die Rollen, die die Bänder transportieren, sind sichtbar. Die Fenster für die Anzeigen und der Markenname sind aufgeschraubt. Das tonneauförmige Gehäuse besitzt Lünettenschrauben mit Innenprofil. Der durchbohrte Kronenschutz wirkt charakteristisch und lässt sich wie ein Hebel bedienen, um die Zeit einzustellen. Die Akkus halten 28 Tage, danach lassen sich die Energiespeicher der Uhr über ein Induktionsladegerät kabellos wieder füllen.
Das neue Design in der Uhrenwelt zeichnet sich also durch viele Kanten und Ecken aus, sichtbare Schrauben mit komplexen Köpfen, die Kombination unterschiedlicher Materialien und eine hohe Anzahl an Details. Dieses Design wird die klassischen Uhren sicher nicht ablösen, aber die Avantgarde ist auf dem Vormarsch und erhält immer mehr Zuspruch. Allein der enorme Erfolg von Hublot zeigt die zunehmende Beliebtheit des technischen Designs. Und in anderen Branchen wie bei den Premiumautos sieht man die komplexere Formensprache ebenfalls. Sie ist letztlich nur konsequent und zeitgemäß. Manchmal benötigt dieses Design einen zweiten Blick, damit man erkennt, mit wie viel Liebe zum Detail auch Kleinigkeiten wie Zeiger oder Indexe gestaltet wurden und wie aufwendig selbst winzige Schrauben eine dreidimensionale Optik mit polierten und satinierten Flächen erhalten. jk