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Gangreserve-Anzeige

Ungewöhnlich: Beim »Radiomir Tourbillon GMT Ceramica« von Panerai trägt das Kaliber P2005-S die Information zur verbleibenden Energie auf der Rückseite
© PR
Was die Tankanzeige in einem Auto, ist sie bei einer Uhr: Die Gangreserveanzeige gibt Auskunft darüber, wie viel Energie ein Uhrwerk gespeichert hat. Das macht nach Ansicht von Experten Sinn für Automatik- und Handaufzugsuhren und ist von erstaunlicher Vielfalt.
In der klassischen Mechanik ist die Energie eines Systems seine Fähigkeit, Arbeit zu leisten. Verloren geht dabei nichts – sieht man mal von gewissen Reibungsverlusten ab. Die Newtonschen Gesetze geben Aufschluss darüber, dass sich die Summe der Energien nicht ändert. Was an Energie zugeführt wird, wird in gleichem Maße wieder abgegeben.
Bei mechanischen Uhren bedeutet das: Energie, mittels Automatik- oder Handaufzug zugegeben, wird in die Bewegung von Zahnrädern und schließlich der Zeiger umgewandelt. Wie viel das ist beziehungsweise wie viel davon bleibt, wird allgemein als Gangdauer bezeichnet. Dieser Begriff umschreibt die Zeit, die eine Uhr vom Vollaufzug der Zugfeder bis zu deren Entspannung läuft. Allgemein wird mit der Gangdauer heute auch die Bezeichnung Gangreserve gleichgesetzt. Wie lange die Gangdauer eines Uhrwerks währt, hängt vom Übersetzungsverhältnis des Räderwerks, von der benötigten Kraft durch zusätzliche Anzeigen oder Komplikationen sowie von der Länge der Zugfeder und damit der Anzahl der Zugfederumgänge ab. Die Gangdauer beträgt bei klassischen Taschenuhren etwa 24 Stunden, bei Großuhren rund sieben Tage und bei normalen Armbanduhren etwa 50 Stunden. Kompliziertere Modelle haben diese Frist mittlerweile deutlich verlängert: Armbanduhren mit einer Gangautonomie von acht bis zehn Tagen leisten diese dank vergrößerter, verdoppelter oder verdreifachter Federhäuser.
IWC Portugieser Automatik © PR
Denn dem Federhaus kommt bei der Gangdauer die größte Rolle zu. Das Federhaus ist der Energiespender und -speicher des mechanischen Uhrwerks und beherbergt die Zugfeder. Diese wird durch das Aufziehen gespannt und indem sie sich entspannt, treibt sie das Räderwerk an. Das Federhaus hat in seiner Mitte als zentrale Achse den Federkern, auch Federwelle genannt, an der die Zugfeder eingehängt ist und von wo aus die Feder aufgezogen wird. Die Kraftabgabe erfolgt dann am anderen Ende der Feder. Dabei legt sie sich an die Wandung des Federhauses, wobei dieses rotiert. Über eine Verzahnung an der Unterseite des Federhauses erfolgt der Eingriff in das Räderwerk, das nun mit einer sehr langsamen Drehbewegung – etwa einer Umdrehung in sechs Stunden – angetrieben wird.
Der Rechen wird aufgesetzt: Sein Farbverlauf von Weiß nach Rot informiert über die verbleibende Energie des Werks © PR
Um ein Überspannen der Zugfeder zu verhindern, gibt es verschiedene Konstruktionen. Bei Automatikuhren ist die Zugfeder mit einer Bride beziehungsweise einer Schleppfeder ausgestattet, einem Stück aus besonders starkem Federstahl. Es wirkt als Rutschkupplung, da die Schleppfeder bei Vollaufzug im Federhaus nachrutscht. Bei Handaufzugswerken ist das Federende mit einem Endhaken oder Zaum (einer Handaufzugsbride) versehen, der verhindern soll, dass die Feder bricht. Der Aufzug wird durch den Rücklauf des Sperrkegels gestoppt, der in das Sperrrad eingreift.
Mit linearer, dreidimensionaler Gangreserveanzeige: die Legacy Machine No. 1 von MB&F © PR
Ist die Zugfeder voll gespannt, kann man das bei manchen Uhren vom Zifferblatt ablesen: Viele mechanische Armbanduhren offerieren eine Anzeige der Gangdauer, was als eigene Komplikation gilt. Zumeist erfolgt dies retrograd, also durch einen Zeiger, der sich vor- und dann wieder zurückbewegt – ganz nach Belieben des Uhrenherstellers auf einer linearen, einer halbkreis- oder kreisförmigen Skala, die manchmal Beschriftungen wie "Auf" für Vollaufzug und "Ab" für abgelaufen beziehungsweise die englischen oder französischen Bezeichnungen "Up" und "Down" oder "Haut" und "Bas" tragen; manchmal wird die Zahl der verbleibenden Stunden angegeben.
Die Lange Zeitwerk © PR
Bisweilen wird die Restgangdauer durch Farbfelder angezeigt; dabei bewegt sich unter einem Zifferblattausschnitt die Anzeige zum Beispiel von Weiß nach Rot. In der Regel befindet sich die Anzeige auf dem Zifferblatt – steht sie doch auch für die Freude an der Mechanik. Bei einzelnen Modellen – zum Beispiel von Panerai – hat die Gangreserveanzeige ihren Platz auf der Werkrückseite gefunden.
Die Uhr von Franck Muller, 1992 präsentiert, verfügt neben der Gangreserveanzeige für das Werk bei sechs Uhr über eine Gangreserveanzeige für das Schlagwerk © PR
Den verschiedenen Möglichkeiten der Anzeigen stehen mehrere technische Möglichkeiten der Umsetzung gegenüber. Früher werden zum Beispiel Federkraftmesser eingebaut, es wird der Federdurchmesser durch einen Anzeigehebel abgetastet oder ein Hebel rotiert mit der Federwelle auf einer Spiralnut und verschiebt dabei einen Schlitten, an dem der Anzeiger befestigt ist. Da dies alles wenig genau ist, setzt sich schließlich ein Differentialgetriebe durch, das die Übersetzung vom Federhaus zur Anzeige erlaubt. Immerhin gilt es zu berücksichtigen, dass sich beim Aufziehen der Federkern, beim Ablaufen jedoch das Federhaus dreht und der Federkern stillsteht. Früher verfügen vor allem Präzisionsuhren über Gangreserveanzeigen. Vor allem bei Beobachtungsuhren oder Marinechronometern zur Schiffsnavigation ist der zuverlässige Gang immens wichtig. Um stets an das fällige Aufziehen zu erinnern, werden besagte Anzeigen eingeführt. Ein weiterer Grund ist, den Nutzer der Uhr zu möglichst regelmäßigem Aufziehen zu mahnen: Geschieht dies absolut regelmäßig, kann das Uhrwerk stets unter gleichen Bedingungen ablaufen. Ein pralles Energiepolster ist zudem wichtig für den genauen Gang einer Uhr: Lässt die Kraft der Zugfeder deutlich nach, verringert sich das Drehmoment vom Federhaus bis zur Unruh, so dass die Ganggenauigkeit leidet. Dies geschieht aber erst, wenn die Feder sich schon weit entspannt hat. Moderne Legierungen für die Zugfeder ermöglichen ein gleichmäßiges Drehmoment in einem weiten Bereich der Federspannung.
Ulysse Nardin Black Sea: Eta 2892 mit hauseigenem Modul für Gangreserve und kleine Sekunde © PR
Dennoch ist die Gangreserve eine beliebte Komplikation, die nicht nur Handaufzugs-, sondern auch Automatikuhren bereichert. Eine der ersten Serien-Automatikuhren mit Gangreserve wird 1948 von Jaeger-LeCoultre als Kaliber 481 vorgestellt. Nun mag man sich fragen, wozu eine Automatikuhr, die ja allein durch die Bewegungen des Arms beim Tragen aufgezogen wird, über eine Gangreserveanzeige verfügt. Dazu Renato Bonina, Geschäftsführer Europa der Uhrenmarke Ulysse Nardin, die früher unter anderem Schiffsuhren und Marinechronometer gefertigt hat und die Gestaltung der damaligen Gangreserveanzeigen in Automatikuhren von heute wieder aufleben lässt. Bonina hält diese Anzeigen für eine "wunderschöne Zusatzfunktion, weil sie dem Träger zeigt, dass seine Uhr lebt. Man kann nach dem Anlegen der Uhr am Morgen beobachten, wie sich das Werk nach den nachts verlorenen Reserven wieder aufzieht. Ich selbst trage eine Automatikuhr mit Gangreserveanzeige und schätze das sehr."
Das Eterna-Kaliber 3510 wird vor dem völligen Ablaufen angehalten: Der Haken oben links bewegt sich nach unten, dreht einen Stift, so dass die Feder (ganz links) die Unruh stoppt © PR
Eine ganz andere Position vertritt Patrick Kury, Technischer Direktor von Eterna. Er hält die Gangreserveanzeige nur bei Handaufzugsuhren für sinnvoll: "Sie gibt dem Kunden die Information, wann das Werk aufzuziehen ist. Das ist eine schöne Ergänzung, die auch dem Mechanikfreund Freude bereitet." Bei Eterna hat Patrick Kury für das eigene Kaliber 3510, das in der neuen Madison Eight-Days zum Einsatz kommt, eine entsprechende Gangreserveanzeige konstruiert, die während der achttägigen Gangdauer kontinuierlich die Information zum Energiestand des Werkes gibt und rechtzeitig den Handaufzug anmahnt. Das Werk, das theoretisch Kraft für einen Zehn-Tage-Lauf hat, wird nach acht Tagen automatisch gestoppt, um die schlechteren Gangwerte am Ende der Laufzeit zu vermeiden. Zur Erinnerung: Lässt die Kraft der Zugfeder nach, beeinflusst das die Amplitude, also die Schwingung der Unruh und letztlich die Präzision.
Die Eterna Madison Eight-Days © PR
Das Anhalten des Uhrwerks beruht auf einem laut Kury relativ simplen Mechanismus: Wird das Uhrwerk aufgezogen, schiebt ein Zahnrad den Rechen mit der weiß-roten Gangreserveanzeige nach oben. Beginnt die Uhr abzulaufen, bewegt sich der Rechen wieder nach unten. An seinem Ende trägt er einen Haken, der am Ende der Abwärtsbewegung auf einen Stift trifft. Dieser ist in der Platine fixiert und trägt auf seiner Oberseite eine Nase. In diese hakt der Rechen ein und dreht den Stift im Uhrzeigersinn um ein paar Grad. Dadurch wird eine in den Stift genietete Feder in die Unruh gedrückt, die daraufhin stoppt. Bei erneutem Aufzug wird der Rechen wieder nach oben geschoben, der Stift dreht zurück, die Unruh wird wieder freigegeben und beginnt wieder zu schwingen. Und gleichzeitig kann jeder auf dem Zifferblatt sehen: Das Uhrwerk ist wieder vollgetankt.
Text: Iris Wimmer-Olbort

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